Katalog

9 S IGR I D WALTHER »Deutung des Daseins« Zu Gemälden von Bernhard Kretzschmar aus den Jahren 1916 bis 1967 Nach seiner eigenen Aussage war Bernhard Kretzschmar »Protestant im tiefsten Sinne des Wortes.« In zahlreichen Schriften, Pamphleten und Briefen, in Redebeiträgen und Zwischenrufen hat er sich zu den Aufgaben der Kunst und des Künstlers, zum Unter­ schied zwischen Talent und Begabung, zum Handwerk, zu Fragen von Realismus und Bildgestaltung, zum »Erforschen der Erscheinungen, um […] an den Kern des Seins heranzukommen« geäußert. 1 Seine Überzeugung war es, »mit ehrfürchtiger Scheu die Welt immer neu zu sehen, sie als organische Einheit unseres Lebensgesetzes zu emp­ finden und sie in einer dem Fähigen faßbaren Form zu gestalten.« Dieser individuelle Protestantismus hatte sich schon früh gezeigt, und er hat sich im Laufe seines Lebens zu einem festen Charakterzug entwickelt. Bereits als Kind sah Bernhard Kretzschmar die bittere Armut in seinem Elternhaus, das er als typisch für die Not der »unteren Zehntausend« in der Blütezeit des deutschen Kaiserreiches schilderte. Es forderte ihn heraus, zur Erkenntnis der Ursachen des Bestehenden vorzudringen und »tiefer über diese allgemeinen Zustände nachzudenken.« Aber er schilderte es auch als musisch, besonders seine Mutter, die als Kostümschneiderin am Döbelner Theater tätig war, wohin es ihn als Jungen oft zog. In diesem Elternhaus erfuhr er etwas »von der Poesie des Lebens, von der hohen Sendung der Kunst, wie [er] es in dieser Klarheit im Laufe [s]eines Lebens von keinem ›Experten‹ wieder zu hören bekommen« hatte. »Sehe ich zurück bis zum ersten Augenblick des Bewußtseins als Kind, dann wird mir offenbar, daß sich eine gerade Linie durch den chaotischen Irrwald meines Lebens zieht. Die Phantasie des Kindes, geformt von der Wunderwelt der Dinge, hat sich in der Realität des Lebens als die Stabilität desselben erwiesen. Es war eine Kindheit, deren Träume und Sehnsüchte für mich zum Kompaß meines Lebens geworden sind.« Aus diesen Worten sprechen Naivität und Reinheit des Herzens, die ihn später davor bewahren sollten, sein Werk etwa politischen Systemen anzudienen. »Hineingestellt in eine bewegte Zeit mit ihren gesellschaftlichen Spannungen und damit auch geistigen Konflikten, begann ich, mir das notwendige Rüstzeug für meine größeren Absichten zunächst auf handwerklicher Ebene zu erwerben«, hatte er geschrieben, um bald danach zum Kunststudium nach Dresden zu gehen. Auch hier blieb die soziale Not anwesend, Enttäuschungen über das dort Erlernbare kamen hinzu. »Die Eindrücke des Ersten Weltkrieges […] zwangen mich wiederum zum tieferen 1 Vor dem Schaufenster , um 1925, Aquarell, 61,5×75 cm Privatbesitz

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