Katalog
72 Fred Steins Werk im Spiegel von Emigrationserfahrung und politischer Überzeugung T H E R E S I A Z I E H E „Dresden vertrieb mich; so wurde ich Fotograf.“ 1 Mit diesen Worten beschrieb Fred Stein den Zusammenhang zwischen seiner erzwungenen Emigration und der Entschei- dung, sein Hobby zum Beruf zu machen. Unter den Emigrantinnen und Emigranten seiner Zeit gab es auffällig viele, die in der Fotografie ein vielversprechendes Tätig- keitsfeld sahen. 2 Es bedurfte keiner besonderen Ausbildung, wenn man die technischen und künstlerischen Voraussetzungen mitbrachte. Zudem versprach der Aufschwung des fotografischen Journalismus eine realistische Chance, Geld verdienen zu können. Vielen half die Fotografie auch, sich in einer neuen, oft fremden Kultur zurechtzufinden und ein neues Lebensumfeld zu entdecken. Für den Fremden und Außenstehenden wurde die Kamera zur Übersetzungshilfe. Sie zwang den Fotografen, genauer hinzu- schauen, intensiver und meist auch kritischer zu beobachten und dadurch neue Ein- drücke besser zu verarbeiten und zur eigenen Erfahrung werden zu lassen. Siegfried Kracauer beschrieb die besondere Verbindung zwischen Fremdheit und Wahrnehmung mit folgenden Worten: „Als Fremder vermag er tatsächlich alles wahr- zunehmen, denn nichts, was er sieht, ist trächtig mit Erinnerungen, die sein Blickfeld einengten.“ 3 Fotografen hatten zudem deutlich geringere Sprachbarrieren als etwa Schriftsteller. Das Fotografieren als transnationale Bildersprache konnte leicht in einem anderen Land fortgesetzt werden. Durch Emigration und Exil erfuhren sowohl die Biografien von Fotografinnen und Fotografen als auch ihre Arbeit und Ausdrucksweise starke Einschnitte. Dazu schrieb Ilse Bing: „Wir kamen als Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten und mußten uns ein neues Leben aufbauen. Natürlich hatte ich, in New York lebend, neue Einflüsse und andere Erfahrungen. Vor allem die Athmosphäre [sic!], das Licht usw. veränderten meine Wahrnehmung, ohne meine deutsch-französische Art des Sehens zu zerstören. Wenn man mich fragte, antwortete ich: Ich bin ein internationaler Cocktail.“ 4 Fred Steins Lebensweg führte zunächst nach Paris und später nach New York. Auch zahlreiche andere Fotografinnen und Fotografen emigrierten in der gleichen Abfolge in die zwei Metropolen, die dadurch in der Fotogeschichte des 20. Jahrhunderts eine ganz besondere Bedeutung erlangten. Paris blieb bis in die 1930er Jahre hinein die weltweite Hauptstadt der Kunst. Neben anderen Künstlern waren Fotografinnen und Fotografen wie Man Ray, Brassaï, André Kertész, Germaine Krull, Lee Miller, Dora Maar, Ilse Bing, Robert Capa, Gisèle Freund oder Erwin Blumenfeld hier tätig und machten die Stadt zu einem echten multinationalen Schmelztiegel der Fotografie.
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