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94 Der bedeutende Augenblick. Fred Steins Stadtfotografie B E R N D H Ü P P A U F Einige Porträtfotos von Fred Stein sind zu Ikonen des 20. Jahrhunderts geworden: Albert Einstein (Princeton 1946), Hannah Arendt (New York 1949), der alte Hermann Hesse (Montagnola 1961) haben das kollektive Bildgedächtnis auf immer geprägt. Hinter ihnen ist der Fotograf verborgen geblieben. Trotz der weiten Verbreitung der Porträts in Zeitungen, Zeitschriften (u. a. Regards, L’humanité ) und einiger Einzelausstellungen zählt Fred Stein nicht zu den Stars in der Geschichte der Fotografie. Das liegt am Markt und am Fotografen. Der Markt verlangt nach Performativität, nach der Inszenierung der Person, nach der Sensation. Stein hatte eigentlich die Voraussetzungen dafür: Emigrant in Paris und New York, Sohn eines Rabbiners und säkularer Intellektueller mit einer juristischen Ausbildung, den die Nationalsozialisten aus der Bahn geworfen hatten und in dessen Leben sich dramatische Szenen finden, die sein Schicksal mit der Weltgeschichte verbinden. Die Flucht vor den deutschen Besatzern aus Paris nach Marseille und die Reise auf einem der letzten Schiffe nach New York waren nicht weni- ger ergreifend als die Schicksale von Emigranten, aus denen Filme entstanden oder von denen Anna Seghers im Roman Transit erzählt. Aber Stein stand der Sinn nicht nach Selbstinszenierung. Er war dem öffentlichen Spektakel abgeneigt und zurückhal- tend. Seine Fotografien bedienten nicht den Wunsch nach Sensation. Der Anfang als Fotograf war bescheiden. Stein war ein Selfmademan. Aber er machte sich mit einer Kamera, die er und seine Frau sich gegenseitig zur Hochzeit geschenkt hatten, zu einem der bemerkenswerten Fotografen des Jahrhunderts. Die Kamera habe ihn gelehrt zu fotografieren, hat er gelegentlich bemerkt. Aber der Fotografie dieses Autodidakten haftet nicht das Dilettantische der Amateurfotografie an. Stein hatte eine emotionale Beziehung zu den Menschen und Städten, die er fotografierte. Er setzte seine Liebe in eine spezifische Bildsprache um. Der Jurist, der in Frankreich seinen Beruf nicht ausüben konnte, machte sich in Paris aus Not und Neigung zum Fotografen. Bereits wenige Jahre nach der Flucht aus Dres- den wurde er zu Ausstellungen eingeladen, an denen Man Ray, Ilse Bing, Brassaï, Dora Maar, Robert Doisneau und André Kertész beteiligt waren. Als Autodidakt war Stein stets in einer prekären finanziellen Lage, aber frei von dem Druck, den Auftraggeber auf professionelle Fotografen ausüben. Freiberufliche Foto- grafen haben die größeren Möglichkeiten, etwas von sich selbst in die Fotografie zu legen und gleichzeitig ein authentisches Bild zu schaffen. Diese Seite des Nicht-Pro- fessionellen zeigt sich in Steins Stadtfotografie.

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