Katalog
263 überschätzt« wurde. 5 Heinrich August Winkler hingegen vermutete, dass die »Zahl der kommunistischen Parteimitglieder, die zu den Nationalsozialisten überwechselten, [...] beträchtlich gewesen sein« dürfte. 6 Dass Darstellungen sowohl von Historikern als auch Zeitzeugen auseinanderklaffen, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass kaum Dokumente zur Verfügung stehen, die eine Quantifizierung zulassen. Zu den wenigen als Prüfstein geeigneten Quellen zählen biografische Stichproben in einzelnen SA-Stürmen. Diese ergeben einen geschätzten Anteil von maximal 1,7 Prozent ehemaliger Kommunisten in der SA. 7 Das klingt vernach- lässigbar wenig; es ist jedoch notwendig, sich vor Augen zu führen, was die Prozentzahl angesichts des ungleichen Kräfteverhältnisses von SA und KPD bedeutete. Wenn man davon ausgeht, dass einer dynamisch wachsenden SA bis Mitte 1934 etwa 2,9 Millionen Deutsche beitraten, dann entspräche der in den Stichproben ermittelte Anteil von 1,7 Pro- zent ehemaliger Kommunisten in der SA, extrapoliert auf das gesamte Deutsche Reich, einer Zahl von bis zu 50000 Kommunisten. Bei einer geschätzten Mitgliederzahl der KPD von 300000 war das etwa ein Sechstel der Parteimitglieder. Diese Abschätzung kann, zumal sie durch eine Reihe von Indizien unterschiedlicher Herkunft gestützt wird, als Hinweis dafür gelten, dass der politische Seitenwechsel zwar begrenzte Ausmaße hatte, aber dennoch ein ernstes Problem für die deutschen Kommunisten darstellte. REGIONALE UNTERSCHIEDE Auch wenn nur spärliche und verstreute Zahlenangaben zur Verfügung stehen, besteht Grund zu der Annahme, dass das Überlaufen ins gegnerische politische Lager lokal und regional in unterschiedlichem Ausmaß stattgefunden hat. Einige kommunistische Milieus erwiesen sich im Jahr 1933 als relativ resistent gegen nationalsozialistische Einflüsse. So berichtete der Kommunist Johann Reiners, dass in seinem Erfahrungsumfeld – dem Mili- eu der Bremer Werftarbeiter – Überläufer von der KPD zur SA die Ausnahme gewesen seien. 8 Quellen aus anderen Regionen hingegen, so ein KPD-Bericht aus Mecklenburg von Juni 1933, vermerkten: »Es gab viele Austritte und auch Uebergänge zur SA.« 9 Ein beson- 1 Vgl. Norbert Frei, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, München 2013, S. 80. 2 Vgl. Rudolf Diels, Lucifer ante portas, Stuttgart 1950, S. 207. 3 Herbert Wehner, Zeugnis, Frankfurt amMain u.a. 1986, S. 69. Vgl. auch Hans J. Reichardt, Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes der Arbeiterbewegung. In: Walter Schmitthenner/Hans Buchheim (Hg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler, Köln/Berlin 1966, S. 169–213, hier S. 184f. und S. 187, sowie Oskar Hippe, ...und unsere Fahn’ ist rot. Erinnerungen an sechzig Jahre in der Arbeiter bewegung, Hamburg 1979, S. 138. 4 Bericht über Lage und Tätigkeit der Organisation, o.D., Eingangsstempel 27.12.1933 (BArch, SAPMPO, RY 1/I 4/2/51, Bl. 27–32, zit. 30). 5 Hartmut Mehringer, Die KPD in Bayern 1919–1945. Vorgeschichte, Verfolgung und Widerstand. In: Martin Broszat/Hartmut Mehringer, Bayern in der NS-Zeit, Band V, München 1983, S. 1–286, zit. S. 80. Vgl. Detlev Peukert, Die KPD im Widerstand. Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhein und Ruhr 1933 bis 1945, Wuppertal 1980, S. 107. 6 Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewe- gung in der Weimarer Republik, Bd. 2: Der Weg in die Katastrophe, Berlin 1987, S. 910. 7 Vgl. Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989, S. 193f. 8 Vgl. Johann Reiners, Erlebt und nicht vergessen. Eine politische Biographie, Fischerhude 1982, S. 98. Historiker kamen zu ähnlichen Einschätzungen, vgl. Inge Marßolek/René Ott, Bremen im Dritten Reich, Bremen 1986, S. 151f. 9 Bericht von 15 (übertragen aus dem Code),
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