Katalog
264 gefangene derer Fall war vermutlich Berlin, wo es bereits lange vor 1933 nicht nur gewaltsame Stra- ßenkämpfe zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, sondern auch Konkurrenz und fließende Übergänge gegeben hatte. Koordiniert durch NSDAP-Gauleiter Joseph Goebbels hatten die Nazis im »Kampf um Berlin« teilweise kommunistische Strategien adaptiert, um traditionell linkssozialistische Milieus zu zersetzen. Dazu gehörte die Über- nahme kultureller Praktiken bis hin zur Gründung nationalsozialistischer Schalmeienka- pellen. 10 Inwiefern in diesem Zusammenhang auch punktuelle, tagespolitisch motivierte Zweckbündnisse wie die gemeinsamen Streikaktionen bei den Berliner Verkehrsbetrieben imNovember 1932 die Demarkationslinie zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten durchlässiger gemacht haben, ist unsicher, zumal die tatsächliche Kooperation im Zuge dieser Streikaktion minimal war. 11 Nichtsdestotrotz weist eine auf KPD-internen Zahlen basierende Schätzung darauf hin, dass die Fluktuation zwischen linken und rechten Kampfbünden in der Reichshauptstadt etwas stärker ausgeprägt gewesen sein könnte als im Rest des Deutschen Reiches. Dem- zufolge liefen 1933 in Berlin etwa 20 Prozent der Kommunisten zu den Nazis über, darun- ter viele ehemalige Mitglieder des Roten Frontkämpferbundes (RFB). 12 Das korrespondiert mit subjektiven Eindrücken von Zeitzeugen wie etwa des Berliner Kommunisten und RFB-Angehörigen Karl Kresser: »Höhnisch belächelt von den Nazis, hatten es jetzt viele eilig, in die faschistischen Organisationen zu kommen.« 13 Für Sachsen gibt es keine Statistiken, auch keine Schätzwerte zum Ausmaß des politi- schen Seitenwechsels, aber es ist bekannt, dass sich eine Reihe regional bekannter kom- munistischer Funktionäre den Nationalsozialisten anschlossen; mit entsprechenden Auswirkungen auf die Partei. Ein Beispiel ist ein im »Flöhaer Tageblatt« vom 5. April 1933 abgedruckter Aufruf des Politischen Leiters des dortigen KPD-Unterbezirks, Rudolf Mäthe. Der langjährige KPD-Funktionär, der zu dieser Zeit im »Schutzhaftlager Plaue« (einer umfunktionierten Turnhalle) inhaftiert war, hatte darin »seinen Austritt aus der KPD« erklärt und alle Kommunisten und KPD-Wähler aufgefordert, »sich von der Partei loszu- sagen«. 14 Insgesamt 127 Kommunisten sowie andere KZ-Häftlinge sollen diesen Aufruf unterschrieben haben. Dabei dürfte es sich um eine opportunistische Verzweiflungstat gehandelt haben, eine instinktive Augenblicksentscheidung, die kaum Rückschlüsse auf die politische Überzeugung zulässt. Der Wirkung des Aufrufes tat das allerdings, wie Mäthe in einem zwanzig Jahre später verfassten politischen Lebenslauf selbstkritisch einräumte, keinen Abbruch: »Mit dieser Erklärung wurde unter die Bevölkerung Verwir- rung getragen und die Arbeit der Genossen, die mit der illegalen Arbeit der Partei beauf- tragt waren, erschwert. So kam es auch später nicht zu einer größeren illegalen Arbeit im Kreis Flöha.« 15 Auch andernorts dürfte durch öffentliche Kapitulation vor dem politischen Gegner die ohnehin vorhandene Tendenz von Sympathisanten und Mitgliedern der KPD zu Resigna- tion und Rückzug verstärkt worden sein. Die innerhalb der Häftlingsgemeinschaft des Schutzhaftlagers Sachsenburg im Oktober und November 1933 ausgetragenen Konflikte bieten ein weiteres Beispiel hierfür. Der Erinnerung des Leipziger Kommunisten und Widerstandskämpfers Fritz Simonis zufolge war das Konzentrationslager in der Nähe von
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