Katalog
· 14 · umzug zur 800-Jahr-Feier wettinischer Herr schaft einen außerordentlichen Höhepunkt. Bürgertum und Dynastie schienen vorbildlich vereint, eine Revolution undenkbar. Doch in diesen Konsens konnte, wollte und durfte die parallel an Kraft gewinnende Sozialdemokratie in Sachsen nicht eintreten. In deren Aufstieg zur Massenpartei am Ende des 19. Jahrhunderts vermittelt sich deshalb die begrenzte Eindringtiefe des bürgerli chen Sachsen-Konzepts bei der zahlenmäßig wachsenden Arbeiterschaft; Sozialdemokra tie war keine sächsische Angelegenheit, sondern ein internationales oder doch we nigstens nationales Projekt! Die Umbenen nung etwa von Straßen und Plätzen nach Wettinern stieß folgerichtig auf Widerstän de aus dem sozialdemokratischen Umfeld. Und doch hinterließ die »Wettineri sierung« Spuren bis in die Unterschichten hinein. Nach dem ungeliebten Kurzzeitre giment des Königs Georg von Sachsen 1902 bis 1904 rückte mit Friedrich August III. ein außerordentlich volkstümlicher Mann auf dem Thron nach, ein Mann, der politisch kaum Akzente setzte, ein Mann, der von seiner Frau verlassen worden war und in dieser Allzumenschlichkeit plötzlich nahbar schien. Als Feind, als Hassgegner, als pro pagandistische Projektionsfläche taugte dieser scheue sächsische König nicht. Der revolutionäre Furor von 1918 galt dann auch folgerichtig dem Amt und der Monarchie, die sich überlebt hatten, nicht aber dem Mann Friedrich August III. selbst. Die sächsische Sozialdemokratie vor dem Krieg Der außerordentliche Erfolg der Sozialde mokratie in Sachsen vollzog sich in einem der wirtschaftlich, wissenschaftlich, sozial und bevölkerungsmäßig dynamischsten Länder des Deutschen Reichs. Die Einwoh nerzahl Sachsens stieg von 1,9 Millionen um 1850 auf 4,8 Millionen im Jahr 1910, wuchs damit auf mehr als das Zweieinhalbfache und war deutlich stärker als der durch schnittliche Bevölkerungs-Zuwachs im Reich. 2 Vor allem die Einwohnerzahl in den großen Städten Dresden, Leipzig und Chem nitz explodierte geradezu. Unaufhaltsam entwickelte sich Sachsen zu einem Indust rieland; zahllose mechanisierte Betriebe und das dichteste europäische Eisenbahn netz entstanden, und am Vorabend des Ersten Weltkrieges arbeitete nur noch jeder zehnte Sachse in der Landwirtschaft. Die stattdessen überproportional anwachsende Lohnarbeiterschaft der Mittel- und Groß städte wurde zur Hauptklientel einer Sozi aldemokratie, die hier den günstigsten Nährboden für ihre Entwicklung fand. Nicht zufällig gründete sich der institutionelle Vorläufer der SPD, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), 1863 in Leipzig. Und nicht zufällig gehörte die radikaldemokra tisch-sozialistische Sächsische Volkspartei von Wilhelm Liebknecht und August Bebel zu den entscheidenden Wegbereitern für die Gründung der Sozialdemokratischen Ar beiterpartei 1869, die sich 1875 mit dem ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SPD) zusammenschloss. Wenigstens drei ganz spezifisch sächsi sche Aspekte begünstigten über die sozio demografischen Faktoren hinaus den au ßergewöhnlichen Erfolg der SPD in Sach sen: 3 Sachsen war traditionell ein evange lisch-lutherisches Land gewesen. Weder die katholische Königsfamilie noch die merkli che Arbeitskräfte-Zuwanderung von Katho liken seit 1871 hatten daran etwas ändern können. Dass die lutherische Landeskirche Sachsens als Instrument des Obrigkeitsstaa tes wahrgenommen wurde und sich erst vergleichsweise spät der existenziellen Not lagen in der Arbeiterschaft annahm, 4 trug entscheidend zur frühen Entkirchlichung weiter Teile der unteren Bevölkerungs schichten bei, die nun in der Sozialdemo kratie nicht nur eine politische, sondern auch eine neue geistig-kulturelle Heimat fanden. Im ehedem lutherischen Sachsen erreichte die SPD deshalb einen deutlich höheren Mobilisierungs- und Organisations grad als in den katholischen Regionen des Reichs, in denen die Zentrums-Partei als katholische und soziale Opposition breite Teile der Arbeiterschaft absorbierte. Zur Popularität der sächsischen Sozial demokratie trug auch die latente Preußen feindlichkeit der Partei bei, die gerade in Sachsen traditionell auf fruchtbaren Boden fiel. Diese mentale Sachsenspezifik stand freilich im Widerspruch zur im Kern natio nalen Programmatik der SPD, für die in Rechts: König Albert, Heliogravüre eines Kupferstiches von L. Lorenz, um 1885. Ganz links: Wilhelm Liebknecht, Foto, o. J. Links: August Bebel, Foto, um 1890.
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