Katalog
· 15 · letzter Konsequenz das Reich und nicht die provinzielle sächsische zweite Kammer Ziel einer (mehr oder weniger) revolutionären Umgestaltung war. Viel stärker als alle an deren sächsischen Parteien richtete die SPD ihren Blick und ihr Handeln auf Berlin und nicht auf Dresden. Schließlich betrieb das politische Esta blishment in Sachsen eine in dieser Form einzigartige parlamentarische Ausgrenzung der SPD, die zum Spiegel für das Auseinan dertriften zwischen der wirtschaftlich-kul turellen Modernität des Landes einerseits und der erstaunlich reaktionären, stark agrarisch dominierten Landespolitik ande rerseits geriet. Gerade in Sachsen wussten die konservativen königlichen Regierungen im Deal mit dem bürgerlichen Parteienkar tell den drohenden Siegeszug der SPD durch eine im Kontext höchst perfide Wahlrechts änderung erfolgreich zu verhindern. Das ehedem 1868 eingeführte, damals ver gleichsweise progressive, sächsische Zen sus-Wahlrecht hatte zwar durch die für eine Stimmabgabe verbindliche Mindeststeuer abgabe die sozialdemokratische Kernklien tel, die sächsische Arbeiterschaft, zunächst noch weitgehend ausgeschlossen, dennoch verzeichnete die SPD in den Jahren nach 1890, als der gewachsene Wohlstand immer mehr Arbeitern den Zugang zur Wahlurne ermöglichte, größere Achtungserfolge und besetzte schließlich 15 der 80 Sitze in der zweiten sächsischen Kammer. Das daraufhin 1896 von den bürgerlichen Parteien be schlossene und von König Albert in Kraft gesetzte Dreiklassen-Wahlrecht nach preu ßischem Vorbild führte in den folgenden Jahren zu einer faktischen Verbannung der SPD aus dem sächsischen Parlament – und dürfte in dieser augenscheinlichen Diskri minierung nolens volens der Partei zahlrei che weitere Unterstützer, Mitglieder und Wähler zugetrieben haben. Fast folgerichtig fuhren die Sozialdemo kraten bei den nach allgemeinem Wahlrecht (für Männer) abgehaltenen nationalen Reichstagswahlen in Sachsen fast zeitgleich unglaubliche Siege ein. 1898 erlangten sie fast 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, 1903 fast 60 Prozent. Gerade die Reichs tagswahlen des Jahres 1903 gerieten zum Triumph. Die SPD-Kandidaten holten sensa tionelle 22 der 23 Wahlkreise. Der Mythos vom »roten Königreich« war endgültig ge boren. Sachsen und die Sozialdemokratie schienen wie in keinem anderen Land des Reichs unauflöslich eng verbunden. Die Diskrepanz zwischen der sozialde mokratischen Dominanz bei den Reichstags wahlen und ihrer parlamentarischen Aus grenzung auf Landesebene machte eine Korrektur in Sachsen immer dringlicher – zumal die SPD durch Massenkundgebungen auf der Straße starken Druck entfaltete. König Friedrich August III., seit 1904 auf dem Thron, etablierte nach einer Reihe konservativer Regierungschefs 1906 den liberaleren Wilhelm von Hohenthal als neu en starken Mann im sächsischen Gesamt ministerium, das nun eine Wahlrechts reform in Gang setzte, die 1909 zur Einfüh rung des sogenannten Pluralwahlrechts führte. Obwohl der Zuschnitt des neuen Wahlrechts ein Übergewicht der SPD weiter hin gezielt verhindern sollte, 5 erlangte die sächsische Sozialdemokratie in den Wahlen von 1909 mit beachtlichen 25 von 80 Sitzen endlich wieder (große) parlamentarische Repräsentanz im Königreich Sachsen. Die Beschwörung einer proletarischen Revolution gehörte von jeher zum festen rhetorischen Arsenal der Sozialdemokratie, und für deren langjährigen Vorsitzenden August Bebel schien eine kommende Revo lution zeitlebens noch unausweichlich. Aber
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