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· 11 · André Thieme Am 9. November 1918 floh König Friedrich August III. von Sachsen vor der ausbrechen den Revolution aus Dresden. Wenige Tage später hatte ihn seine Flucht ins benach barte Preußen, auf Schloss Guteborn (Lau sitz) geführt. Dort unterzeichnete er am 13. November seinen Verzicht auf den säch sischen Thron und entband Beamte und Offiziere von den auf ihn beschworenen Pflichten. Weithin unblutig, weithin sang- und klanglos waren Monarchie und König ver schwunden – nur eine kurze, sich schnell überlebende Sensation im eiligen Takt der revolutionären Umbrüche. Tag für Tag drängten sich damals immer neue Ereig nisse, immer neue Zäsuren in den Vorder grund und ließen keinen Raum für einen »emotionalen« Abschied von der Monarchie. Der stille Abgang des letzten sächsischen Königs rief deshalb kaum Hass und Wut, kaum Angst und Trauer, öfter vielleicht noch ungläubiges Achselzucken darüber hervor, dass es nun wirklich vorbei war, und hinterließ bei erstaunlich wenigen der ehe mals königlich-sächsischen Untertanen ei nen bleibenden Phantomschmerz. Reichlich 800 Jahre wettinischer Herrschaft in Mit teldeutschland hatten mit der Abdankung Friedrich Augusts III. ihr Ende gefunden – und doch erschien der abrupte Bruch dieser außerordentlichen dynastischen Tradition letztlich nur als wichtigste Nebensache der großen Revolution von 1918 in Sachsen. Das bürgerliche Sachsen und seine Dynastie im 19. Jahrhundert Dabei hatte die wettinische Dynastie im 19. Jahrhundert einen ungeahnten Auf schwung genommen, nicht nach Rang und Macht, sondern ausgerechnet als Anker ei ner bürgerlich-sächsischen Identität – eine der typisch sächsischen Paradoxien. Noch im 18. Jahrhundert fremdelten die lutheri schen Sachsen mental mit ihrem frisch ka tholisch gewordenen Fürstenhaus. Doch als Sachsen seine lutherische Führungsrolle im Reich nach 1815 endgültig an Preußen ver lor, verlor auch der konfessionelle Gegen satz zwischen Land und Dynastie an Brisanz. Und ausgerechnet die schwindende Real macht der Wettiner in Europa, aber auch in Sachsen selbst, machte sie zur perfekten, idealisierenden Projektionsfläche sächsi scher Identität. 1 Politisch war es mit den Wettinern und auch mit Sachsen nach furiosem Auftakt im 19. Jahrhundert schnell bergab gegangen – auch das verband. Wie die Landesherren in Bayern und Württemberg erhielt der säch sische Kurfürst Friedrich August III. 1806 den erblichen Königstitel (als König gezählt als Friedrich August I.); Sachsen wurde auf den Trümmern des alten Heiligen Römi schen Reichs deutscher Nation zum eigenen Königreich, wenn auch von Napoleons Gna den. Für die Wettiner bedeutete das trotz allem eine enorme familiäre Aufwertung. Nach dem insgesamt unglücklichen pol nischen Intermezzo des 18. Jahrhunderts waren die Wettiner 1806 endlich dauerhaft in der Spitzengruppe der europäischen Adelshierarchie, den Königshäusern, ange kommen. Doch schon mit dem Wiener Kongress verschwand das neue Königreich Sachsen 1815 endgültig von der Bühne der macht politisch maßgeblichen Mächte Europas. Ausgerechnet an den Erzrivalen Preußen verlor man zwei Drittel seines Territoriums mit einem Drittel der sächsischen Unterta nen: Aus dem ehedem im Reich führenden Kurfürstentum war ein mindermächtiges Königreich Sachsen geworden. Als König Friedrich August I. wenig später aus preu ßischer Gefangenschaft zurückkehrte, empfing ihn eine weiß-grün-gefärbte Begeiste rung. In Niederlage und Verlust rückten die Sachsen und ihr König auch mental wieder enger zusammen. Der Frust auf Preußen blieb und wurde zur Konstante einer sächsischen Mentalität, die sich auf den großen nördlichen Nach Vom Königreich zur Republik Sachsen und die Revolution von 1918 »Was hat uns die Revolution gebracht?« Sozialdemokratisch orientierte Propagandaschrift zu den Ergebnissen der Novemberrevolution. Herausgegeben von der Delegation der gesamten Soldatenräte an der Ostfront, Dezember 1918.
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