Leseprobe
8 Goethes Testamentsvollstrecker Kanzler von Müller und die für Goethe als Sekretäre bzw. Mitarbeiter tätigen Herren Riemer, Eckermann und Kräuter begannen wohl nicht zufällig ihre Bestandsaufnahme der Goetheschen Hinterlassenschaften bei diesem Schrank im Arbeitszimmer. Sicherlich war ihnen bekannt, dass sich hier bedeutende Manuskripte des literarischen Nachlasses wie der Faust II befanden. Der Inhalt der in Goethes Arbeitszimmer befindlichen Möbel wird dann der Reihenfolge nach gegen den Uhrzeigersinn weiter inventarisiert. Am 31. März, an dem Eckermann fehlt, dafür Leib arzt Dr. Vogel hinzukommt, wird mit der Arbeit am großen Schreibtisch des Verstorbe- nen begonnen. 2 Auch hier kommen zahlreiche Dokumente zur Herausgabe von Goethes Werken und Korrespondenzen mit Verlegern zum Vorschein. Doch finden sich in den Schubfächern und »Abtheilungen« auch diverse Andenken, darunter drei in Papier ein- geschlagene Haarlocken, von denen eine mit »Charlotte« beschriftet ist, das berühmte Karlsbader Trinkglas der Familie von Levetzow, von dem später noch die Rede seinwird, 3 ein Toposkop (Vermessungsgerät) nebst Beschreibung und auch ein blaues Pappkästchen mit Mineralien, ein Geschenk wohl von Alwine Frommann. Das einige Tage später durchgesehene lange Stehpult mit 30 Fächern, der Schreibtisch neben demOfen und die zuletzt inventarisierte Kommode neben der Eingangstür enthalten auf den ersten Blick ein Sammelsurium an eigenen und fremden Schriften, naturwissenschaftlichen Gegen- ständen, amtlichen Papieren, Briefen, Zeichnungen und anderem. Die Aufschriften auf verschiedenen Konvoluten zeigen, dass es gezielte Ordnungsaktionen und systematische Vorbereitungen zur späteren Überlieferung bereits zu Goethes Lebzeiten gab. Dass sich wichtige Teile des Goetheschen schriftlichen Nachlasses nicht hier fanden, erklärt sich aus der Archivierungspraxis durch Goethe und seine Mitarbeiter: So existierte ein Archiv im Brückenzimmer des Hauses, das die Brief-Repositur und weitere Akten enthielt. Außerdem waren Papiere und Unterlagen im Regierungsarchiv des Großherzogtums gelagert. Nach dem Arbeitszimmer nimmt sich die Kommission noch das Decken-, das Brücken- und das sogenannte Sammlungszimmer vor. Die Begehungsprotokolle enden am25. April 1832mit einer Liste von Gegenständen, die Goethes Schwiegertochter erhält, um sie an Freunde des Hauses zu verschenken. Die Aufzeichnungen aus den März- und Apriltagen 1832 lesen sich wie eine Entde- ckungsreise in Goethes Arbeits- und Interessenzusammenhänge der letzten Lebensjahre. Sie bilden vor allem dasjenige ab, woran er gerade arbeitete und was er für die Nachwelt aufbereitete, darunter viele Dinge, diemit seinen autobiografischenArbeiten zu tun hatten, 2 GSA 38/ N1, fol. 6v. Es handelt sich umden Schreibtisch, denGoethe vermutlich von Karl Ludwig von Knebel erwarb und dannmehrfach umbauen ließ, Klassik StiftungWeimar, Museen, Inv.-Nr. GMo/00096. Siehe dazu auch: Holm: Goethes Gewohnheiten, S. 116. Der Ankauf ist belegt in GSA 30,17 (Transkription: Ste- fanie Harnisch 2018). 3 Siehe in diesemBand den Beitrag von Cornelia Ortlieb: Vor demGlas. 4 Siehe auch Holm: Aus Goethes Schubladen und Dies.: Goethes Papiersachen. Christiane Holm greift das literarische Motiv der Kramschubladen auf, in denen sich auf den ersten Blick zufällig Dinge ansammeln, die von einem späteren Beobachter inventarisiert werden. Die sich ergebende Zusammenstellung der Objekte in einer
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1