Leseprobe
34 Was aus der Mitteilung nicht direkt hervorgeht: Mit diesen Zeilen ist in die Ordnung der Lebewesen eine neue Art eingeführt worden. Genauer gesagt, indem Gray das Fell vor seinen Augen mit einem Namen belegt und zugleich die augenfälligsten Merkmale des Tiers publiziert, ist eine neue Adresse in der zoologischen Nomenklatur entstanden. Bei Grays Mitteilung handelt es sich um eine Erstbeschreibung. Wie wir aus der Mit- teilung wissen, bedeutet das nicht, dass ihr Verfasser der Sammler seinmuss; in der Regel ist sogar das Gegenteil der Fall. Es bedeutet auch nicht, dass damit der Wolf zum ersten Mal überhaupt beschrieben worden ist. Grays Literaturangaben deuten an, dass das Tier schon vorher Erwähnung gefunden haben könnte, nur ist es dort nicht mit einemeigenen wissenschaftlichen Namen belegt worden. Genau dieser Akt geht hingegenmit einer Erst- beschreibung einher. Von nun an werden alle Exemplare, die dem geschilderten Wolf ähnlich sind, mit dem wissenschaftlichen Namen Canis chanco bezeichnet und unter die- sem Namen als Art versammelt. Erst durch die Zuordnung eines Namens wird ein Tier zoologisch verkehrsfähig. Jeder Forscher hat diesen Namen zu benutzen, der Name allein stellt sicher, dass klar ist, von welchemWolf die Rede ist, durch den Namen zusammen- gehalten, können sich Informationen anhäufen, der Name gibt dem Tier Spezifität, steht zu ihm im selben Verhältnis wie die Legende zum Bild. 2 2. Taxonomie und Nomenklatur bilden keine gewöhnlichen Teilgebiete der Biologie. Durch die enge Bindung an Regelwerke kommt das Vorgehen inmanchen Aspekten einem juris- tischen Prozedere nahe. Geforscht wird vornehmlich vom Schreibtisch aus, Bibliothek, Online-Datenbank und Sammlung bilden die wichtigstenHilfsmittel; molekulare Verfah- ren haben sie immer noch nicht verdrängt. 3 Gleichzeitig handelt es sich um eine zentrale Tätigkeit, entstehen doch so die Einheiten, mit denen jeder in der Biologie arbeitet. Von Taxonomie und Nomenklatur hängt ab, welche Lebewesen für dieWissenschaft existieren und in welchen systematischen Zusammenhängen sie zueinander stehen: »Metaphysics in action.« 4 ImWeiteren gehe ich aber ausschließlich auf einige hierher gehörige Vorgänge der Verschriftung ein. Ich folge dabei der Perspektive der Akteure, die ihre Aufzeich nungenmit größter Aufmerksamkeit bedenken. Tatsächlich verwenden nur wenigeWis- senschaften so viel Zeit und Raum auf die Erläuterung der geeigneten Vorgehensweisen. Selbst für die Wahl der passenden Schreibmaterialien fehlt es nicht an Hinweisen: »Use 2 In ihrer ethnografisch-künstlerischen Untersuchung der Wolfsanlage im Zoo Zürich beschreibt Luzia Hürzeler die durch die zwei Besuchereinblicke begrenzten Einsichten in das Gehege als systematisch arrangierte Bilder. Die an den Einblicken aufgestellten Schautafeln liefern hierzu die Legende. Gezeigt werden ferne Nachfahren von Grays Wolf aus der Chinesischen Tartarei, heute als Mongolischer Wolf bezeichnet. Diese und weitere Informationen auf den Schautafeln instruieren die Besucher, was sie sehen sollen: Eine Wolfsart in ihrem Habitat, ein bedrohtes Tier und schließlich weiter gefasst auch seinen europäischen Verwandten, der seit Ende der 1990er-Jahre – keineswegs einhellig begrüßt – wie- der in der Schweiz vorkommt. Dafür, dass dieser Eindruck nicht gestört wird, sorgt die Arbeit am Bild: Die tägliche Reinigung der Anlage, deren Bepflanzung und Gestaltung, das Verbergen der Infrastruktur,
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