Leseprobe
21 Materialität und Praxis in der Sammlungsforschung Es mag paradox erscheinen, die Sammlungsschränke von Goethe analysieren zu wollen, obwohl sie heute zum großen Teil entleert und ihrer ursprünglichen Funktion enthoben sind. Doch gerade diese vermeintlich nebensächlichen Gebrauchsmöbel erlauben Ein blicke in goethezeitliche Sammlungspraktiken. Die Überlieferungssituation des Bestan- des in Goethes Wohnhaus ist eine glückliche Ausnahme, denn solche Möbel aus bürger- lichen Privatsammlungen wurden oft unter den Erben verstreut und weiter benutzt oder – wenn sie in ein Museum kamen – im Zuge musealer Neukonzeptionen entsorgt, weil sich der Einrichtungsgeschmack oder die wissenschaftlichen Ansprüche geändert hat- ten. Historische Ordnungs- und Zeigemöbel blieben meist nur erhalten, wenn es aus Platzgründen notwendig war oder wenn sie – so in Goethes Fall – berühmten Persön- lichkeiten gehörten. Dann wurden sie gar zu den wichtigsten Bestandteilen der musealen Einrichtung von historischen Wohnräumen. Möbel geben einen Eindruck davon, wie ein Mensch lebte, und evozieren das Gefühl seiner Gegenwart. Da die meisten solcher ehedem selbstverständlichen Dinge im Laufe der Zeit verlorengehen, wird ihre Funktion und Beschaffenheit für die nachkommenden Generationen umso bedeutsamer und nicht selten auratisch aufgeladen. ImUntersuchungszeitraum dieser Studie, dem späten 18. bis frühen 19. Jahrhundert, gab es noch kaumSerienproduktionen für Möbel. Wenn ein Schrank also speziell für eine Sammlung konzipiert und hergestellt wurde, spiegelt er alsWissenswerkzeug die Bedürf- nisse des Sammlers und zugleich seine Beschäftigungmit denObjekten, seine Ordnungs- formen und Sehgewohnheiten wider. Die jeweilige Materialität eines Schrankes liefert Informationen über seine Gebrauchsweisen. In ihm überlieferte Etiketten, handschrift liche Beschreibungen oder Beklebungen, insbesondere im Zusammenspiel mit über Urbinozimmer im Goethehaus mit Blick auf ein Kabinettschränkchen (19. Jh., nicht Goethes Besitz).
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