Leseprobe

39 Goethes gegenständliches Denken Die heutige scharfe Trennung von Fachwissenschaften und privater Sammelleidenschaft war um 1800 noch nicht ausgeprägt. 12 Es gab zwar einerseits die Sammlung des ›Lieb­ habers‹ oder ›Kenners‹ – diese Bezeichnungen wurden häufig für Sammlungen auf dem Gebiet der schönenWissenschaften verwendet – und andererseits die des empirisch vor- gehendenWissenschaftlers, der eine spezialisierte, auf seine beruflichen Forschungsinte- ressen zugeschnittene Belegsammlung anlegte –meist imBereich der Naturwissenschaf- ten. Doch fast immer, wie auch bei Goethe selbst, trat noch eine Vermischung beider Sammlungsideale auf. Eine aus Liebhaberinteressen angelegte Sammlung konnte durch- aus als Grundlage für wissenschaftliche Studien dienen. 13 Dilettantismus war ein Bil- dungsideal des hohen Adels und des wohlhabenden Bürgertums und ein selbstverständ- licher Bestandteil der sich allmählich entwickelnden spezialisierten Fachwissenschaften. 14 Viele Privatsammlungenwaren auch nachwie vor universal ausgerichtet. Die Disziplinen waren noch nicht eindeutig voneinander abgegrenzt und die jeweiligen Fragestellungen nicht kanonisiert. Goethe beschrieb die verschiedenen Typen von Sammlern und ihre Motivationen in seiner Novelle: Der Sammler und die Seinigen . 15 Er führt darin unterschiedliche Spielarten von Sammlungen auf, legt sich dabei aber auf keinen Idealtypen fest. Wichtiger als eine strenge Definition des Begriffes der Sammlung war ihm und den Zeitgenossen das gesellschaftli- che Leben, das sich an ihr entfalten konnte, wie Carrie Asman in ihrem grundlegenden Essay zu diesem Text darlegt. 16 Sein eigenes Sammeln hat Goethe nie ausführlich thema- tisiert, es spiegelt sich aber in zahlreichen seiner Werke wie in dieser Novelle. Asman hat drei Aspekte ausgemacht, die Goethe der Sammlung zuschrieb: Sie wirke erstens durch das Bewahren von persönlichen, familiären oder national bezogenen Objekten identitäts- stiftend. Zweitens kommunikationsfördernd, indem sie Ort der Begegnung und des Aus- tauschs mit anderen sei. Sie diene drittens der Ausbildung von ästhetischem Urteil, Geschmack und Blick. 17 Die sinnliche Erfahrung der Sammlungsobjekte und das anre- gende Gespräch standen im Vordergrund. Goethe betonte in verschiedenen Äußerungen diese Aspekte von Sammlungen, er schrieb beispielsweise an seinen Sohn August über seinemineralogischen Sammlungen und Studien: »Diese Untersuchungen, Betrachtungen und Sammlungenmachen den schönsten Theil meines hiesigen Vergnügens, theils an und für sich, theils weil sie eine geistreiche Unterhaltung geben mit Personen, die sich früher oder später, mehr oder weniger, gründlicher oder oberflächlicher mit diesen Dingen

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1