Beschriebene Objekte Schriftlichkeit, Materialität und Performativität in Goethes Sammlungen Gudrun Püschel
Beschriebene Objekte Schriftlichkeit, Materialität und Performativität in Goethes Sammlungen GUDRUN PÜSCHEL
7 I. Einleitung 8 Die Objekte 12 Im Gespräch mit den Dingen 16 Objektbeispiele 18 Schriftlichkeit 22 Materialität 24 Performativität 28 Positionierung und Forschungsstand 31 II. Material und Methoden 32 Einleitung 34 Objekte, Dinge, Gegenstände – Terminologie 38 Museale Objekte und Versuche ihrer Kategorisierung 41 Die Datenbank Inhalt
45 III. Beschriebene Objekte 55 Das Karlsbader Glas 80 Die Favorite 89 Ein Paar Damenhandschuhe 107 Das Seidenband 119 Gesammelte Erinnerungen 133 Das Kinderschreibzeug 150 Die Schreibzeug-Rolle 162 Das Reiseschreibzeug »Souvenir« 171 IV. Schluss 177 V. Anhang 178 Abbildungsnachweis 179 Siglen, Abkürzungen und Online-Ressourcen 180 Literatur 190 Dank 192 Impressum
8 Die Objekte »Der schönste Schmuck bleibt stets der Musselin.«1 Gedruckt in lateinischen Lettern steht dieser Ausspruch auf einem goldgelben Seidenband, das unter der Signatur GSA 29/550,I im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrt wird. Ein:e Goethe-Forscher:in denkt bei diesen Worten wahrscheinlich an den beinahe identisch lautenden Vers im Buch Suleika des West-östlichen Divan, eine:n Textilrestaurator:in interessiert hingegen das empfindliche Gewebe, ein:e Archivar:in sucht das Band sinnfällig in die Sammlungssystematik einzuordnen, während ein:e Museolog:in vielleicht die Wirkung des Objekts in einer Ausstellungsvitrine antizipiert.2 Nach der ›Sprache‹ dieses Objekts gefragt, stünden je nach Perspektive der Betrachtenden der Referenztext Divan, die Materialsemantik, die Überlieferungsgeschichte oder die historische Kontextualisierung im Fokus. Vertreter:innen der Konsumforschung, Editionsphilologie und Kulturgeschichte könnten das Spektrum mit eigenen Betrachtungsweisen erweitern. Mit Lorraine Daston ließe sich sagen, dass das Schmuckband »talkative« ist.3 Es gehört zu jenen speziellen Objekten, »that made each of us want to talk about how these particular things talk to us. They are objects of fascination, association, and endless consideration«.4 Dieses spezielle Seidenband ist gesprächig, indem seine materielle Struktur, der aufgedruckte Text sowie seine Provenienz und Präsenz nicht nur unterschiedliche Reize auslösen und Assoziationen wecken können, sondern gleichermaßen eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten bieten. Es fordert die Auseinandersetzung mit ihm heraus, wir möchten über diese Wirkungen sprechen oder schreiben und werden unsererseits gesprächig. Diese Arbeit geht der Frage nach, ›wie Dinge zur Sprache kommen‹.5 Wie vermitteln bestimmte Objekte6 ihre Bedeutung, ihre Situierung in Zeit und Raum, ihre Relationen? Welcher Narrative bedienen sie sich dabei? Mit welchen Mitteln affizieren sie ihre Um1 Der Text der schrifttragenden Artefakte, die in dieser Arbeit untersucht werden, ist in der Mehrzahl der Fälle nicht historisch-kritisch ediert. Die Zitation erfolgt daher direkt von den Textträgern bzw. den Datenblatteinträgen und wird mit der Inventarnummer bzw. Signatur des Objekts belegt. Unklare Lesarten werden diskutiert. 2 In der vorliegenden Untersuchung wird i. d. R. ein Doppelpunkt zwischen männlichen und weiblichen Artikeln sowie nach einer männlichen Bezeichnung oder dem Wortstamm und vor die weibliche Endung gesetzt, um der geschlechtlichen Vielfalt bei Personenbezeichnungen gerecht zu werden. 3 Daston 2004 a, S. 21. 4 Ebd., S. 11. Im Folgenden wird Dastons Begriff »talkative« mit »gesprächig« übersetzt. 5 Dies ist zugleich das Thema des im Rahmen des BMBF-Förderschwerpunktes
9 welt und wie gelangen sie zu dieser Handlungsmacht, die auch eine Sprachmächtigkeit ist? Während Günter Oesterle in Bezug auf Souvenirs der Frage nachgeht, was in den Dingen steckt,7 lautet hier die Fragestellung: Wie wird es implementiert und vor allem wieder geäußert? Dabei ist nicht jedes Objekt gleichermaßen »talkative«: So kann ein seriell hergestelltes Massenprodukt während seiner Lebensdauer zu einem individuellen Objekt mit einer ganz eigenen Geschichte werden, gleichzeitig läuft ein einzigartiger Gegenstand möglicherweise Gefahr, seine Sprachfähigkeit im Verlauf der Zeit zumindest partiell zu verlieren. Je nach Form, Material und Funktion, Einbindung in (kulturelle) Praktiken oder Nichtgebrauch, exklusiver Zurichtung oder spurloser Serialität sind Objekte abhängig vom Kontext mal mehr mal weniger sprachfähige Akteure. Als wesentlich für die Sprachmacht der untersuchten Objekte wird das Zusammenspiel von drei Faktoren identifiziert: Schriftlichkeit, Materialität und Performativität. Der Aufdruck des Seidenbands, sein Material sowie seine performativen Eigenschaften sind wechselseitig voneinander abhängig, sie bedingen einander auf vielfältige Weise und entfalten dadurch eine Sprache, die weit über den semantischen Gehalt der Textzeile hinausgeht. An den vorgestellten Objekten wird deutlich werden, wie Schrift und Schriftträger miteinander – manchmal auch gegeneinander – arbeiten und sich gegenseitig zu dominieren versuchen, wobei die gesprächigsten Objekte jene sind, in denen das Verhältnis ausgeglichen ist. Im Zentrum der Arbeit stehen Objekte, die im Rahmen des vom BMBF geförderten Forschungsprojekts »Parerga und Paratexte – Wie Dinge zur Sprache kommen. Praktiken und Präsentationsformen in Goethes Sammlungen« untersucht wurden. Ausgehend von Johann Wolfgang von Goethes Idee, im »Gespräche mit den Dingen«8 Erkenntnisse zu gewinnen, fokussierte das für die vorliegende Untersuchung relevante Teilprojekt die schriftlich zugerichteten Varia in den Goethe-Beständen. Dabei bedeutet der Ausdruck »schriftlich zugerichtet«, dass diese Gegenstände in unterschiedlicher Weise beschriftet oder anderweitig mit Schrift verbunden sind. Unter »Varia« – ein Hilfsbegriff, den schon die Sekretäre Goethes bei der Inventarisierung gebrauchten – versteht man überwiegend solche Objekte, die zwar Teil des umfangreichen Nachlasses von Goethe und seiner Familie sind, jedoch keiner der zentralen Sammlungen – der grafischen, plastischen, naturwissenschaftlichen und geologischen – zugeordnet werden. Vielmehr sind es Dinge, die sich im Haus am Frauenplan in Weimar eher angesammelt haben, wobei »Die Sprache der Objekte« durchgeführten Verbundprojekts »Parerga und Paratexte – Wie Dinge zur Sprache kommen. Praktiken und Präsentationsformen in Goethes Sammlungen« (Laufzeit 4/2015– 3/2018). Beteiligt waren mit je einem Forschungsschwerpunkt die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, die Universität Bielefeld, die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie die Klassik Stiftung Weimar, deren Bestände die Grundlage aller Untersuchungen bilden. 6 Da die Analyse sich in einem musealen Kontext bewegt, wird im Folgenden vorzugsweise von Objekten, Sammlungsstücken und Gegenständen gesprochen. Die Begriffsbestimmung sowie die verwendeten Termini und Methoden werden in Kapitel II dieser Arbeit diskutiert. 7 Oesterle 2006, S. 18 f. 8 FA II, 3, S. 67.
10 einige davon mit Bedacht aufbewahrt, andere jedoch einfach verstaut und vielleicht auch vergessen wurden. Darunter finden sich Objekte aus dem persönlichen Umfeld Goethes ebenso wie Freundschafts- und Liebesgaben, intime Souvenirs, auch Wertvolles aus dem Kunstgewerbe und aufwendige Handarbeiten. In den Blick gerieten zudem einige Objekte, deren Provenienz bis dato unklar ist oder die im Zuge der Musealisierung des goetheschen Nachlasses in diesen übernommen wurden. Dazu gehören auch einige der Gegenstände, die aus Wolfgang Maximilian von Goethes Nachlass stammen und durch eine Stiftung dem 1885 gegründeten Goethe-Nationalmuseum in Weimar zukamen.9 Alle Objekte zählen heute zu den Sammlungen der Klassik Stiftung Weimar und gehören überwiegend dem vielfältigen Bestand des Kunstgewerbes sowie dem schriftlichen Nachlass an; unter Letzterem wird zum Beispiel auch das eingangs genannte Seidenband archiviert, auf die Gründe wird später noch eingegangen. Einige dieser Sammlungsgegenstände haben durch Ausstellungen oder spezielle Forschungsinteressen bereits einen größeren Bekanntheitsgrad erlangt, andere wurden im Zuge der Recherchen erst an die Oberfläche gespült. Trinkgläser, Handschuhe, Schreibzeuge, Untertassen, ein Seidenband und anderes mehr – sie unterscheiden sich in ihrer Herkunft und ihrem Gebrauch, waren funktionell oder von hohem ideellen Wert und werden heute an verschiedenen Orten unter spezifischen Bedingungen aufbewahrt. Gemeinsam ist den Objekten jedoch ein besonderes Verhältnis zu Schriftzeichen: Sie tragen Auf- und Inschriften, sind aufwendig schriftlich ausgeschmückt, offiziös ausgezeichnet oder beinahe unleserlich, geradezu klandestin markiert. In jeder Hinsicht variabel, macht sie das zu Varia im besten Sinne, zu Dingen, die sich nicht ohne Weiteres kategorisieren lassen und schon aufgrund dieser Widerständigkeit eine gewisse Sprachmacht entwickeln. Bei der Auswahl der Objekte geht es weder darum, mit ihrer Hilfe einen weiteren Beitrag zur Exegese des Lebens und Schaffens Goethes und seiner Familie zu leisten, noch sollen im Sinne einer Aufmerksamkeitsökonomie vermeintlich marginalisierte Nebendinge aus dem persönlichen Nachlass in den Stand von Reliquien gehoben werden. Was die Sammlungen Goethes neben ihrer Vielfältigkeit für diese Arbeit so interessant und wertvoll macht, ist vielmehr die häufig äußerst dichte Überlieferungskette der Bestände. Neben den Aufzeichnungen Goethes, vor allem in seinen Tagebüchern und den Korrespondenzen, geben mehrere detaillierte Inventare Aufschluss, die direkt nach seinem Tod und in der Folgezeit angefertigt wurden. So lassen sich oft die Umstände rekonstruieren, unter denen ein Gegenstand Eingang in den Haushalt fand, ob und wie er sich darin integrierte und wo er zum Zeitpunkt von Goethes Tod aufbewahrt war. Daran anschließend sind die Schriftwechsel seiner Enkel und der Schwiegertochter Ottilie von Goethe untereinander sowie mit den Nachlassverwaltern hilfreich bei der Kontextualisierung der zum Teil komplexen Überlieferungssituation. Denn gerade die von Goethes Enkel Wolfgang Maximilian beschrifteten Gegenstände zeichnen sich durch vielsagende Biografien aus. Diese umfangreichen Dokumentationen sind essenzieller Bestandteil der Erschließung, dank ihnen werden die Prozesse und Strukturen sichtbar, in denen die Sammlungsstücke zur Sprache kommen. Sie geben
11 Hinweise auf die soziokulturellen Praktiken der Goethezeit, wie die des Sammelns und Schreibens, der Brief-, Geschenk- und Dingkultur. Solche Praktiken wiederum verhandeln explizit und indirekt Konzepte von Freundschaft, Liebe, Körperlichkeit, Erinnerung, Raum und Zeit, die den Objekten eingeschrieben werden und die sie wiedergeben. Auch dort, wo die zeitgenössische Kontextualisierung eines Objekts prekär oder zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachvollziehbar ist, mangelt es ihm nicht an Gesprächigkeit. Auch ohne pointierte Briefstelle oder wegweisenden Tagebucheintrag teilen sich die Objekte durch haptische, optische, olfaktorische oder auditive Eigenschaften mit. Nicht zuletzt sind sie nie einfach gegeben und demnach auch nie kontextlos:10 So gibt es zum einen immer eine räumliche Situierung, sei es als Einrichtungsgegenstand im historischen Wohnhaus Goethes, in der ständigen Ausstellung des Goethe-Nationalmuseums, im Zentralen Museumsdepot der Klassik Stiftung Weimar oder im Goethe- und Schiller-Archiv.11 Zum anderen sind die Gegenstände ganz grundsätzlich museal gerahmt durch ihre Erfassung in der Museumsdatenbank. Jedes Objekt ist idealerweise durch ein Datenblatt dokumentiert und erhält als kleinste und gleichzeitig wichtigste museale Informationseinheit eine distinkte Inventarnummer, die es im Bestand verortet. Gezielten und konkreten Zugang zu den Objekten erhält nur, wer zumindest diese Nummer recherchiert hat. 9 Wolfgang Maximilian (1820–1883) war der zweite Enkelsohn Goethes. 10 Im Bewusstsein dessen, dass diese Behauptung philosophisch, epistemologisch oder phänomenologisch sehr unterschiedlich begründet werden würde, wird an dieser Stelle pragmatisch verkürzt angenommen, dass es grundsätzlich einen physischen Rahmen für das materiell Realisierte gibt. In diesem Sinne bieten Raum und Zeit immer einen Kontext für das Wahrnehmbare, so rudimentär er dem Subjekt auch erscheinen mag. 11 Zur Museumslandschaft der Klassik Stiftung Weimar gehören zahlreiche weitere Liegenschaften und Räumlichkeiten, in denen Teile der Sammlungen ausgestellt oder aufbewahrt werden. Für die hier besprochenen Objekte sind jedoch nur die oben genannten relevant.
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31 II. Material und Methoden
32 Einleitung Die Objekte dieser Untersuchung sind nie einfach gegeben oder dienen sich ihrer Erforschung an – im Gegenteil. Einige der Gegenstände lagern im Zentralen Museumsdepot der Klassik Stiftung Weimar, weitere befinden sich im Goethe- und Schiller-Archiv, andere wiederum sind im Goethe-Nationalmuseum in der Ausstellung Lebensfluten – Tatensturm1 sowie im Goethe-Wohnhaus zu sehen. Anders als die intentional zusammengetragenen Stücke etwa der geologischen und grafischen Sammlung Goethes, bilden die hier besprochenen Souvenirs, Geschenke und Gelegenheitsgaben eher ein Sammelsurium aus dem langen Leben Goethes sowie seiner Familie im Haus am Frauenplan. Sie gehörten seit jeher keiner systematischen Ordnung oder kunsthistorischen Gattung an, wurden weder von Goethe noch von anderen Familienmitgliedern erfasst, etikettiert oder in Sammlungsmappen und -möbeln abgelegt. Manche der Objekte waren in alltägliche oder besondere Handlungen eingebunden und wurden augenscheinlich mit Bedacht und Sorgfalt aufbewahrt, andere hingegen einfach verstaut und in einer der vielen Schreibtischschubladen vergessen. Sie waren Teil eines lebendigen Haushalts, wurden erst nach Goethes Tod inventarisiert und später musealisiert oder fanden nach einer Zwischenzeit als Besitz der Erben postum Eingang ins Goethe-Nationalmuseum. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist dabei nicht die im weitesten Sinne goethesche Provenienz, sondern überhaupt die Tatsache ihrer Überlieferung. Von Gottfried Herder, Friedrich Schiller und Christoph Martin Wieland, deren Wirkungskreise und Wohnsitze ebenfalls in Weimar beziehungsweise in der nächsten Umgebung lagen und deren Bekanntheit jener von Goethe nicht nachstand, sind nur wenige Einzelstücke des Haushalts beziehungsweise persönliche Gegenstände erhalten.2 Des Weiteren zeichnen sich viele der Objekte durch eine relativ klare Provenienz aus, indem sie in Briefen erwähnt werden, im Nachlassinventar gelistet sind oder dank einer Beschriftung über sich selbst Auskunft geben. Neben den Objekten selbst sind es diese konkreten Möglichkeiten ihrer Kontextualisierung, die Aufschluss geben über ihre Einbettung in Prozesse und Praktiken. Die Schwierigkeit, aber auch das Reizvolle dieser Varia liegt in eben jener Variabilität begründet, in der Vielfalt der Materialien, Funktionen und schriftlichen Zurichtungen. Diese provozieren einen ständigen Perspektivenwechsel und erfordern unterschiedliches Expert:innenwissen, weshalb ihre Sprache sich leichter mit einem transdisziplinären Ansatz verstehen lässt. Der literaturwissenschaftliche Ausgangspunkt dieser Arbeit ist der Grund für das besondere Augenmerk, das auf den schriftlichen Merkmalen
33 der ausgewählten Objekte liegt. Für eine ganzheitliche Betrachtung und Analyse des Zusammenspiels der aisthetischen Qualitäten der Gegenstände, zu denen ebenso die Schriftlichkeit gehört, sind jedoch das Kollektivwissen der Klassik Stiftung Weimar sowie ihre Infrastruktur grundlegend. Die Mehrzahl der Untersuchungsgegenstände verteilt sich auf unterschiedliche Bestände innerhalb der Sammlungen der Klassik Stiftung Weimar und wurde in drei verschiedenen Datenbanken recherchiert: in der Museumsdatenbank, in der Datenbank des Goethe- und Schiller-Archivs sowie im OPAC der Anna Amalia Bibliothek, in der die Bücher aus Goethes Bibliothek einen eigenen Bestand bilden. Erst mit der eindeutig bestimmten Inventarnummer oder Signatur eines Objekts ließ sich dieses im Zentraldepot der Stiftung, in der Ausstellung, im Goethe-Wohnhaus oder im Goethe- und Schiller-Archiv ausfindig machen und in ein Umfeld verbringen, wo es untersucht werden konnte. In einigen Fällen wurde die Autorin von Kustod:innen der Klassik Stiftung Weimar auf bestimmte Objekte aufmerksam gemacht. Ohne deren langjährige Erfahrung und detaillierte Kenntnis ihrer Sammlungsbereiche hätten diese Objekte keinen Eingang in die Untersuchung gefunden. Auf einer banal erscheinenden, jedoch grundlegenden Ebene bestimmten demnach personelle, museumstechnische und -organisatorische Faktoren sowie die Qualität der Überlieferungsgeschichte über den erfolgreichen Zugang zu den Untersuchungsgegenständen, die Rechercheergebnisse sowie den Erkenntnisgewinn. Daran anschließend determinierten die eigene wissenschaftliche Perspektive und Positionierung in einem Forschungsumfeld die Objektauswahl. Die Vergegenwärtigung des historischen, institutionellen und personellen Komplexes, in den die Objekte eingebunden waren und bis heute sind, ist Teil des transdisziplinären Selbstverständnisses und epistemischen Prozesses dieser Arbeit. Um den vorrangig benutzten Terminus ›Objekt‹ zu konkretisieren und konzeptuell einzuordnen, werden zunächst einige wichtige Forschungspositionen aufgezeigt, die sich zum Teil der gleichen Terminologie bedienen, jedoch Unterschiedliches meinen. Da es in erster Linie um die eigene, fachspezifische Begriffsbestimmung geht, wird auf eine detaillierte Begriffsgeschichte und erschöpfende Diskursanalyse verzichtet. Vielmehr werden Schlaglichter auf repräsentative Auseinandersetzungen der objektforschenden Wissenschaften mit ihrem Untersuchungsgegenstand geworfen und der weit ausgreifende Forschungsraum ausgelotet, in dem sich die Arbeit bewegt. Dieser wird im dritten Abschnitt wieder auf die museale Perspektive verengt und die Objekte in diesem speziellen Kontext verortet. Im vierten Abschnitt dann wird die Disposition der Untersuchungsgegenstände in der Museumdatenbank der Klassik Stiftung Weimar betrachtet sowie die Korpusbildung erläutert. 1 Die Ausstellung wurde 2012 als dauerhafte Präsentation eröffnet und beschäftigt sich mit dem Leben und Wirken Goethes im Kontext seiner Zeit. Vgl. Holler u. a. 2012. 2 Dies gilt nicht für ihre schriftlichen Nachlässe, die im Goethe- und Schiller-Archiv verwahrt werden; als sogenannte Dichternachlässe betreut die Klassik Stiftung Weimar mehrheitlich die überlieferten Gegenstände.
34 Objekte, Dinge, Gegenstände – Terminologie Bisher finden sich fächerübergreifend keine belastbaren Definitionen von Ding, Objekt, Gegenstand, Artefakt, Musealie oder Realie, vielmehr werden die Begriffe zum Teil synonym verwendet und stehen unreflektiert nebeneinander. Es lassen sich jedoch Tendenzen erkennen: So sprechen etwa an materiellen Entitäten forschende Disziplinen wie die Archäologie, die Sozial- und Medienwissenschaften sowie die Konsumforschung eher vom ›Objekt‹, wenn es sich um einen konkreten, physisch vorliegenden Sachgegenstand handelt oder um die Reflexion von Subjekt-Objekt-Beziehungen.3 Hingegen scheinen Untersuchungen auf einer theoretischeren beziehungsweise philosophischeren Ebene den Ding-Begriff zu bevorzugen, desgleichen die Philologien häufiger von ›Dingen‹ sprechen, wenn sie Gegenstände aus der erzählenden Literatur oder Poesie meinen.4 Davon zu unterscheiden sind die von der Literaturtheorie so bezeichneten ›fiktiven Gegenstände‹, die jedoch alles fiktional Verhandelte umfassen. Näher betrachtet lässt sich innerhalb der Fächer ein variierender Gebrauch von Bezeichnungen feststellen, der nicht immer nur der gezielten Vermeidung von Wortwiederholungen geschuldet ist. So bietet das Oxford Handbook of Material Culture keine weiterführenden Überlegungen zur Bezeichnung seiner Disziplin(en) und Untersuchungsgegenstände,5 während die Autor:innen des Handbuchs Materielle Kultur zumindest die Problematik der terminologischen Unschärfe ansprechen und eine einleitende Zuordnung versuchen. Laut dieser subsumiert der Oberbegriff ›Ding‹ sowohl Artefakte, das heißt von Menschen geschaffene Dinge, als auch sogenannte Naturafakte, also naturgegebene Dinge – eine Differenzierung, die ebenfalls diskutabel bleibt. Folgerichtig fragen die Autor:innen des Handbuchs, wo die Grenze zwischen Naturafakt und Artefakt zu ziehen wäre, und nennen als Beispiel einen Ast, der zwar natürlichen Ursprungs ist, zugleich aber als Werkzeug benutzt werden kann. Den Begriffen ›Objekt‹ und ›Gegen3 Vgl. beispielhaft: Habermas 1999, Hauser 2001, Bal 2002, Heesen 2002, Heesen 2006, Bohnenkamp 2008, Largier 2010, Detel 2011, Cordez 2015, Kreuz und Kienlin 2016, Herwig 2017, Hampp und Schwan 2017. Doch auch in diesen Fachrichtungen gibt es zahlreiche Ausnahmen wie etwa Balke u. a. 2011, Gößwald 2011, Funke 2013 oder Hermannstädter u. a. 2015. 4 Vgl. beispielhaft: Baudrillard 1991, Assmann 1995 a, Foucault 1999, Soentgen 2002/03, Asendorf 2009, Borsò 2015, Wernli und Kling 2018. 5 Vgl. Hicks und Beaudry 2010. 6 Vgl. Hahn u. a. 2014, S. 2. 7 Thomas Schmuck argumentiert in seiner Arbeit, dass das natürliche Sammlungsobjekt stets einen Doppelcharakter besitzt: Ihm ist in jedem Zustand ein erkennt-
35 stand‹ sei diese Unterscheidung nicht implizit, sie können demnach für alle Arten von Dingen gebraucht werden, ganz gleich ob natürlichen oder menschlichen Ursprungs.6 Im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts »Parerga und Paratexte – Wie Dinge zur Sprache kommen. Praktiken und Präsentationsformen in Goethes Sammlungen« wird die Unterscheidung in Natura- und Artefakte unter anderem an der geologischen Sammlung Goethes verhandelt. Vor dem Hintergrund der sammlungsspezifischen Rahmung von natürlichen Sammlungsstücken wie Steinen, Mineralien und Fossilien stellt sich ebenfalls die Frage nach dem Status der Objekte. Ob und wie werden diese Naturafakte durch das Auswählen, Etikettieren und systematische Einsortieren zu Artefakten? Denkbar wäre, dass bereits das Aufheben oder Herausarbeiten aus der Erde, also die Entscheidung für ein bestimmtes Naturobjekt, dieses zu einem Artefakt transformiert, da es aus seiner natürlichen Umgebung herausgenommen und als Gegenstand menschlichen Interesses von dieser Aufmerksamkeit gerahmt wird. Im Verlauf der Sammlungspraxis wird es in spezifische Behältnisse, Möbel und Architekturen systematisch eingebracht, mit einem Etikett oder anderweitigen Markierungen versehen sowie in Inventaren und Verzeichnissen katalogisiert. Das ehemals naturgebundene Ding wird zu einem epistemischen Objekt – es vollzieht demnach nicht nur einen Ortswechsel, sondern ändert auch seinen Status auf einer logischen Ebene der Betrachtung.7 Zu fragen bliebe, ob das derart artifiziell zugerichtete Objekt wieder zu einem Naturafakt würde, wenn man es in seine natürliche Umgebung rückführte. In der englischsprachigen Literatur werden ›thing‹ und ›object‹ meist ebenfalls synonym verwendet, wobei Bill Brown in seiner Thing Theory einen starken Akzent zwischen die beiden Begriffe gesetzt hat: As they circulate through our lives, we look through objects (to see what they disclose about history, society, nature, or culture – above all, what they disclose about us), but we only catch a glimpse of things. We look through objects because there are codes by which our interpretive attention makes them meaningful, because there is a discourse of objectivity that allows us to use them as facts. A thing, in contrast, can hardly function as window. We begin to confront the thingness of objects when they stop working for us: […] The story of objects asserting themselves as things, then, is the story of a changed relation to the human subject and thus the story of how the thing really names less an object than a particular subject-object relation.8 nistheoretischer Wert eigen, gleichsam beharrt es jedoch als zugerichtetes epistemisches Objekt auf seiner materiellen Naturgegebenheit. Vgl. Schmuck 2018. Die epistemischen Prozesse, die beim Präsentieren von Objekten initiiert werden und die Perzeption entscheidend beeinflussen, untersuchen auch Grave u. a. 2018. Diana Stört nimmt sich dezidiert der Sammlungsmöbel solcher Objekte an und arbeitet heraus, wie bewusst Goethe und seine Zeitgenoss:innen die Verwahrung und Präsentation von Sammlungsobjekten steuerten. Vgl. Stört 2020. 8 Brown 2004, S. 4 [Hervorhebungen im Original]. Mohrmann nimmt diese Unterscheidung zwar auf, geht in ihrer Wortwahl jedoch etwas weiter, wenn sie schreibt:
64 Bäderglas und Kulturpraxis Zum florierenden Bädergeschäft gehörte der Verkauf von Gläsern aller Art, dazu zählten neben Fertigwaren auch solche, die auf Wunsch der Käufer:innen individualisiert wurden. In seiner zylindrischen Grundform ist das Karlsbader Glas ein eher schlichtes Trinkglas, dessen Kristallkörper jedoch durch die Verzierung mit geschliffenen und gesteinelten Bändern, Rillen und Rauten aufgewertet wird und im Etui ein ebenso schmuckvolles wie praktisches Behältnis findet. Die Kurgäste brachten ihre persönlichen Gläser oder Becher mit an den Brunnen, wo sie sich entweder selbst bedienten oder dienstfertige »Schöpfer« 24 bereitstanden, um die Gefäße zu füllen. Einige Brunnenanlagen boten zudem die bequeme Möglichkeit, den eigenen mitgebrachten Becher oder das Glas in einem dafür gefertigten Regal zu deponieren, um es bei Bedarf vor Ort benutzen zu können.25 Oesterle bringt die besonderen gesellschaftlichen Dynamiken und die Einbindung der memorablen Accessoires in den Kurorten auf den Punkt, denn in den Bädern »ist ein anderer kultureller Habitus angesagt: Diätetik und Erotik. Damit beginnt eine Kultur des Indirekten und Ephemeren. […] Mit den Bäderandenken entwickelte sich eine reizvolle Mischung aus kommerzieller Ware und individueller Überformung, aus temporärem Gebrauch und repräsentativer Schönheit.«26 Trinkgläser wie jenes, das die Familie Levetzow Goethe schenkte, waren durchaus für diese kulturelle Praxis bestimmt und nicht nur ein Andenken und Anschauungsobjekt für die Vitrine zu Hause.27 Goethes eigentliche Trinkkur fand bereits in Marienbad vom 2. Juli bis 20. August 1823 statt, weshalb ein konkreter Gebrauch am Brunnen in Karlsbad eher unwahrscheinlich, gleichwohl nicht ausgeschlossen ist. Denkbar ist auch, dass er das Glas zumindest in seiner Unterkunft benutzte, wo er täglichen Umgang mit Mutter und Tochter Amalie, Ulrike und Bertha Levetzow pflegte, und es auf seiner Rückfahrt als Reisebecher benutzte. Es ist außerdem nicht auszuschließen, dass die Levetzows Goethes Wahlverwandtschaften gelesen und sich mit ihm darüber unterhalten hatten. Denn auch hier verdichten sich in einem gravierten Glas zahlreiche Implikationen, wenn Eduard zu Mittler sagt: 24 Nový und Havlíčková 2009, S. 214. 25 Vgl. ebd. Die chemische Zusammensetzung und die heilsamen Wirkungen des Mineralwassers wurden schon früh untersucht, womit sich zum Teil komplexe Kuranweisungen entwickelten. So weist Goethes Arzt in Weimar und späterer Leibarzt Friedrich Wilhelm III., Christoph Wilhelm Hufeland, unter anderem auf die Vorzüge des direkt an der Quelle getrunkenen Wassers hin: »Unstreitig ist der Gebrauch der Mineralwasser unmittelbar aus der Quelle, d. h. aus den lebendigen Händen der Natur selbst, der einzig wahre, und bei welchem allein man das Naturproduct ganz, in seiner vollen Kraft und Reinheit, genießt. [...] [S]o, daß man sie, genau genommen, unmittelbar aus der Quelle mit den Lippen trinken sollte, (so wie der Säugling nur unmittelbar aus seiner Mutterbrust die wahre Lebensmilch trinkt); und, da sich dies nicht wohl thun läßt, wenigstens in der möglichsten Schnelligkeit den Becher zum Munde führen sollte; denn gewiß ist jeder Augenblick Verzögerung auf diesem Wege mit großem Verluste der Heilkraft verbunden.« Hufeland 1815, S. 13. Dessen ungeachtet
65 Mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen und wir werden nicht zu Grunde gehen. Sehen Sie dieses Glas! Unsere Namenszüge sind darein geschnitten. Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken; auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen, aber es ward aufgefangen. Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich daraus, um mich täglich zu überzeugen: daß alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat.28 An dem Roman hatte Goethe während seines Kuraufenthalts in Böhmen im Jahr 1808 intensiv gearbeitet und so wird das derart materialisierte Motiv der fragilen und zugleich unzertrennbaren zwischenmenschlichen Beziehung 15 Jahre später aktualisiert. Glas – Schrift – Andenken Wie dieses spezielle Souvenir seine polyvalenten Funktionen darüber hinaus in der Andenkenkultur Goethes entfaltete, macht ein weiterer Brief deutlich, den Goethe im April 1824 an Amalie von Levetzow schrieb: Indessen bleibt der zierliche Becher der Vertraute meiner Gedancken, die süßen Namenszüge nähern sich meinen Lippen, und der 28te August, wenn es nicht soweit hin wäre, wollte mir die erfreulichste Aussicht geben. Ein trautes Anstoßen und so weiter unwandelbar Goethe.29 Zurück in Weimar diente das Souvenir der Vergegenwärtigung der Damen Levetzow und des gemeinsam verbrachten Geburtstags. Noch einmal kommt Goethe auf das Geschenk zu sprechen, synchronisiert die Handhabung des physisch manifesten Andenkens mit dem Erinnern und knüpft daran die Hoffnung auf eine zukünftige Erneuerung des im Glas eingeschriebenen denkwürdigen Anlasses. Die explizite Intimität dieses Erinnerungsakts gründet in erster Linie auf der erotisch konnotierten Berührung des Glases und damit der eingravierten Namen durch die Lippen. In einer kühnen Umkehrung der Akteure teilt Goethe den Namenszügen sogar den aktiven Part wurden Mineralwässer zu einem veritablen Exportgut der Heilbäder und Goethe trank es etwa bei schlechtem Wetter auch auf seiner Stube. Vgl. Eidloth 2012, S. 19. 26 Oesterle 2006, S. 35. 27 Vgl. die z. T. mit religiösen Motiven, Jagdszenen, Ansichten und Porträts aufwendig verzierten, auch farbig gestalteten Gläser und Pokale des Biedermeiers aus Böhmen und die eher schlichten, vorgefertigten Badebecher und -gläser in: Nový und Havlíčková 2009. Das goethesche Trinkglas mit den Namenszügen und der Andenkeninschrift nimmt sich hier eher einfach aus und weist in Form und Größe deutlich auf seinen Gebrauchscharakter hin. 28 FA I, 8, S. 390. Möglich ist zudem, dass Goethe mit seinen Freundinnen über die Wahlverwandtschaften und seine Arbeit daran gesprochen hat. Charlotte Kurbjuhn betont darüber hinaus den Fetischcharakter des Glases in den Wahlverwandtschaften, das den beiden Protagonisten Eduard und Ottilie als Liebespfand diente. Vgl. Kurbjuhn 2012, S. 304. 29 Goethe an Amalie von Levetzow, 13. 4. 1824, in: MA II, 10, Nr. 108, S. 156.
66 in dieser Handlung zu, als ob nicht er den Becher hielte und zum Mund führte, sondern die Namen sich ganz ohne sein Zutun seinen Lippen näherten.30 Ein Detail der im Material realisierten Schriftzüge ist dabei ganz wesentlich: Die Buchstaben sind in latinisierter Schreibschrift ausgeführt und so muten sowohl der Appell des »Andenken den 28. August 1823. in Carlsbad« als auch die Namen »Ulrike«, »Bertha« und »Amelie« handschriftlich geschrieben an.31 Der Glasschneider imitierte zudem das Schreiben mit Feder, indem er die ›Strichstärke‹ je nach ›Zugrichtung‹ ab- und zunehmen ließ (Abb. 5).32 Diese Mimesis von Handschriftlichkeit scheint für ihn von höherem Aufwand gewesen zu sein, denn die Bögen und angedeuteten Ligaturen der Buchstaben weisen – in einer vielfachen Vergrößerung – deutlich mehr Bearbeitungsspuren auf als die Auf- und Abstriche. Seine Erklärung findet dies in der Technik des Gravierens, die im Folgenden kurz erläutert werden soll: Für seine Arbeit saß der Graveur an einer fußbetriebenen Maschine, deren Bewegung auf ein rotierendes Kupferrädchen übertragen wurde, »das sich um eine starre, horizontale Achse dreht«. Doch »[n]icht das weiche Kupferrädchen schneidet das harte aber spröde Glas, sondern ein mehr oder weniger feinkörniger, abrasiver, dünnflüssiger Brei: der Schmirgel, den damals jeder Graveur selbst hergestellt hat«. Der Graveur hält das Glas in beiden Händen und drückt es von »unten an das Kupferrädchen«, das seine Sicht auf die Gravur dadurch stets behindert. »Um sehen zu können, was er soeben geschnitten hat, muss der Graveur seine Arbeit unterbrechen und den Schmirgel vom Glas wegwischen.«33 Auf ein Tausendstel Millimeter genau führte der Künstler das Glas und benötigte für diese Tätigkeit ausreichend Tageslicht, da Kerzen oder Öllampen zu wenig Helligkeit spendeten. Aufgrund der fixierten Ausrichtung des Kupferrädchens mussten die Bäuche, Bögen und Kurven der Buchstaben folglich durch eine Aneinanderreihung vieler kleiner ›Einzelstriche‹ zusammengesetzt werden. Eine Schreibschrift zu gravieren – auch wenn es sich um die beinahe schnörkellose lateinische handelte –, wird demnach tendenziell heikler gewesen sein, als etwa Versalien in Fraktur zu schleifen. Der Glasschneider beließ die Buchstaben außerdem matt, er polierte die geschliffene Oberfläche nicht auf Glanz und kaschierte die unmittelbaren Spuren der Bearbeitung des Materials nicht. Ohne Politur erhält sich eine Art Unmittelbarkeit des Schriftzugs dieser mit maschineller Hilfe produ30 Das Verschieben der Verantwortung des eigenen Handelns auf ein Objekt beobachtet auch Anne Bohnenkamp-Renken in Bezug auf die Schreibfeder. Diese dient Goethe insbesondere in Briefen an Charlotte von Stein »als eigenmächtige Instanz, der das Begehren des Briefschreibers zugeschrieben werden kann«. Bohnenkamp 2008, S. 24. In einer sinnfälligen Analogie zu den Namenszügen, die sich seinen Lippen nähern, agiert auch die Feder eigenmächtig: »Aus Zerstreuung tauch ich eben die Feder in den brennenden Wachsstock der auf dem Tische bey mir steht, sie scheint nach dem hefftigsten und reinsten Element zu verlangen, da ich im Begriff war Ihnen zu sagen daß ich Sie unendlich liebe.« Goethe an Charlotte von Stein, 3. 3. 1781, in: Goethe 2020, Nr. 309, S. 218. 31 Die Vielfalt und Kunstfertigkeit in der Ausführung von gravierten Schriften auf Gläsern des Biedermeiers ist beeindruckend und im Vergleich zu manch anderen ist die Inschrift des Karlsbader Glases relativ schlicht gehalten. Ohne dies
67 zierten Handschrift, die zur Illusion eines echten Autografs von Hand der Käuferinnen beiträgt und eine gewisse Authentizität behauptet. Werden die gravierten Schriftzeichen hingegen poliert, betonen die entstehenden Reflexionsflächen den artifiziellen Charakter und die handwerkliche Kunst, die bei der schriftlichen Zurichtung des Materials nötig beziehungsweise möglich ist. Die glänzenden, spiegelnden und zugleich transparenten Gravuren lenken die Aufmerksamkeit auf ihre Materialität, während die Zeichenbedeutung in den Hintergrund tritt. Evident wird der Unterschied zwischen diesen beiden Methoden des Gravierens von Buchstaben beim Vergleich der opaken Schreibschrift des Karlsbader Glases mit den polierten Versalien im Fuß des Glaspokals, den Marianne von Willemer Goethe schenkte, und der als nächstes Objekt untersucht werden wird. weiter auszuführen, gibt Paul von Lichtenberg an, dass »für Widmung oder Glückwunsch [häufig] kalligrafische Frakturschrift [...] manchmal auch Kursivschrift« verwendet wurde. Mit Kursivschrift ist hierbei sowohl eine an die Kurrentschriften angelehnte Schreibschrift als auch die dem Karlsbader Glas eigene lateinische Ausführung der Buchstaben gemeint. Lichtenberg 2004, S. 103. Siehe eine Auswahl unterschiedlicher Inschriften auf den Gläsern mit den Kat.-Nr. 69, 77, 161, 173 und 191 in: Lichtenberg 2004. 32 In der gezielten Vergrößerung der digitalen Fotografie des Glases sind die Bearbeitungsspuren des Schleifens und Schneidens deutlich zu sehen, insbesondere die Bögen der Buchstaben weisen unscharfe Ränder auf. Trotz der im Vergleich zu anderen bearbeiteten Gläsern eher schlichten Verzierung, ist das dafür nötige handwerkliche Geschick beeindruckend, zumal das Material keine Korrektur erlaubt. 33 Lichtenberg 2004, S. 15. Abb. 5 Trinkglas, Detail der Schriftzeichen
80 Die Favorite (Kon-)Text und Agency Als Pendant und komplementäres Gegenstück zum Karlsbader Glas soll hier noch auf ein Souvenir verwiesen werden, das Goethe von Marianne von Willemer geschenkt bekam. Es handelt sich dabei um einen Glaspokal mit Deckel, den die Freundin anlässlich des Geburtstags 1829 aus Baden-Baden schickte.1 Den Glaskörper schmücken vier Ovale mit geschliffenen Ansichten der Stadt und deren Umgebung (Eingang der alten Burg, Schloss und Trinklaube, Ansicht bei Lichtenthal, Lustschloss Favorite),2 womit er sich als typisches Andenken aus einer florierenden Kurstadt ausweist. Mit gut 20 Zentimetern ist der Pokal etwa doppelt so hoch wie das Karlsbader Glas, anders als dieses ist er zudem nicht für Wasser, sondern für Wein gedacht. Seine repräsentative Größe, die fein gearbeiteten Abbildungen sowie der gläserne Deckel zeichnen ihn als einen Gegenstand für besondere Anlässe aus, der als Schmuckobjekt auch in einem Vitrinenschrank hätte aufbewahrt werden können (Abb. 6).3 Willemer individualisierte den Pokal, indem sie in den achtfach facettierten Fuß ihren Vornamen in Versalien schneiden ließ. Dreht man das Glas im Uhrzeigersinn, setzt sich Facette für Facette der Name MARIANNE zusammen (Abb. 7). Darüber hinaus ist unter dem Oval mit der Abbildung des Schlosses Favorite die Jahreszahl 1829 eingeschnitten, eine Schrift-Bild-Kombination, die Marianne von Willemer beachtet wissen mochte. In einem Geburtstagbrief vom 26. August 1829 kündigt sie das separat versandte Geschenk an: Diesen Zeilen folgt ein Kästchen, das sich vielleicht um einen oder zwei Tage verspäten könnte; lassen Sie es darum nicht minder willkommen sein, und denken meiner bei dem Bildchen, worunter die Jahreszahl graviert ist. Ganz in der Nähe des Schlosses sitze ich in einem sonnenhellen Stübchen und schreibe, Ihrer herzlich gedenkend.4 1 KSW, Museen, Inv.-Nr. KKg/00663. 2 Vgl. die geschliffenen Ansichten mit den entsprechenden Ortsangaben auf dem Glas: Einzelobjektreport, KSW, Museen, Inv.-Nr. KKg/00663 sowie: Goethe 1995, Nr. 184, S. 452. 3 Dieses Glas wurde in den Acta den von Goetheschen Nachlass betreffend durch die Mitarbeiter Goethes zwar im Arbeitszimmer aufgenommen, jedoch nicht mit seinem genauen Standort verzeichnet. Vgl. KSW, GSA, Sign. 38/N1, unpag. [fol. 24v]. 4 Marianne von Willemer an Goethe, 26. 8. 1829, in: Goethe 1995, Nr. 182, S. 217.
81 Abb. 6 Glaspokal, Geschenk von Marianne von Willemer, 1829, Kristallglas, geschliffen, gesteinelt Abb. 7 Glaspokal, Detail der Facetten
82 Willemer stiftete den Anlass der Erinnerung, indem sie den Pokal schriftlich auszeichnen ließ und in ihrem Brief das entsprechende Narrativ lieferte. Im Glas materialisiert sich die von ihr initiierte Dialektik des Andenkens – sie dachte an Goethe beim Schenken und Schreiben, er hingegen sollte ihrer beim Anblick und Gebrauch des Glases gedenken. Unklar ist, ob Willemer den Pokal mit den bereits geschliffenen Ansichten aussuchte und dann zusätzlich das Datum und ihren Namen schneiden ließ. Dafür spricht, dass die Jahreszahl außerhalb des Ovals und ohne eigene Rahmung platziert ist, wodurch es tatsächlich wie ein Paralipomenon aus der symmetrischen Gesamtgestaltung herausfällt. Denkbar ist, dass der Fuß erst auf Wunsch der Kundin in acht Facetten aufgeteilt wurde, um ihren Namen passgenau einsetzen lassen zu können. Das »Bildchen« des Schlosses mit der untertitelnden Jahreszahl verknüpft Willemer mit ihrer nahe gelegenen Unterkunft, in der sie schreibend ihres Freundes anlässlich seines Geburtstags im Jahr 1829 gedachte. Wie von selbst ergibt sich dabei die Überblendung des Schlosses Favorite mit der Freundin als ›Favoritin‹ vor vielen anderen. Goethes Antwortbrief ist zu entnehmen, dass er diese Engführung durchaus wahrgenommen hat: Nun aber muß ungesäumt berichtet werden: daß zur besten Stunde ein köstliches Glas mit mancherlei guten Abbildungen angekommen und sogleich zu einem dankbaren Erwiderungstrunke Gelegenheit und Anregung gegeben hat. Es ist artig zu bemerken, daß das Lokal einer Favorite einer von der Natur und den Freunden höchst begünstigten Wandernden zum Aufenthalt dienen sollte, in einer Gegend, wo noch von frühern Zeiten her Hudhud im Eckchen seine Rechte behauptet, einigermaßen trauernd, daß er nicht immer fort und fort wie sonst mit anmutigen Aufträgen in Bewegung gehalten wird. Zu einiger Beruhigung ward ihm aus dem neuangekommenen Glase zugetrunken, und er schien diese Begrüßung nicht unfreundlich aufzunehmen.5 Ohne das entscheidende Komma zur semantischen Gliederung bietet der Nebensatz »daß das Lokal einer Favorite einer von der Natur und den Freunden höchst begünstigten Wandernden zum Aufenthalt dienen sollte« beide Lesarten: Im Favorite genannten »Lokal« hält sich die allseits begünstigte Marianne von Willemer auf, oder die Favorite, sprich die Freundin, wird von den anschließenden Zuschreibungen noch näher bestimmt.6 Als »köstlich« bezeichnete Goethe schon das Karlsbader Trinkglas und wie jenem ist ihm eine Agency 5 Goethe an Marianne von Willemer, 30. 9. 1829, in: Goethe 1995, Nr. 184, S. 220 [Hervorhebung im Original]. 6 Dass das Lustschloss nahe Rastatt Willemer als Aufenthaltsort diente, scheint ein Missverständnis seitens Goethe gewesen zu sein. Vgl. Goethe 1995, Anmerkung zu Nr. 184, S. 452. 7 Das Glas ist vermutlich von den Glashändlern Franz Pelikan und Hoffmann aus Meistersdorf in Böhmen gefertigt worden, die während der Bädersaison in Baden-Baden ihr Geschäft betrieben, »ihre Spezialität war es, auf ›Gläser aller Art ... nach Verlangen Landschaften, Figuren, Wappen und Schrift‹ zu schneiden«. Ebd. 8 Vgl. etwa Goethe an Jakob von Willemer, 22. 12. 1820, in: Goethe 1995, Nr. 93, S. 104 und hierzu die Anm. S. 397. 9 Goethe war zunächst im Herbst 1814 für mehrere Tage zu Besuch bei den Willemers und verbrachte 1815 seinen Geburtstag auf der Gerbermühle nahe Frankfurt, dem Sommersitz der Willemers. Auf dieser gemeinsamen Zeit und der produktiven Anteilnahme am West-östlichen
83 eigen, die »Gelegenheit und Anregung« zum Gebrauch gab, welche schriftlich ausgebreitet wurden. Den Namen der Freundin konnte Goethe zwar nicht wie beim »holden Glas« zu den Lippen heben, doch fußt der Pokal und damit die Erinnerung auf diesem.7 Auch dieses Glas ist noch in weiterer Hinsicht ein sinnfälliges Souvenir, das seine Benutzung geradezu einfordert: Das Ehepaar Willemer schickte Goethe in regelmäßigen Abständen Wein, der aus eben diesem Glas getrunken werden konnte.8 Statt an die diätischen Wasserkuren in Böhmen zu erinnern, wurde dieser Pokal mit Wein gefüllt und in Erinnerung an eine andere, südlich gelegene Landschaft und frühere Heimat prostete Goethe der Freundin zu.9 Goethe nahm das Geschenk darüber hinaus zum Anlass, einen besonderen Aspekt ihrer Freundschaft in Erinnerung zu rufen: Hudhud, der Wiedehopf und eigentümliche Bote während der langjährigen Beziehung im Zeichen des West-östlichen Divan.10 Auf diese Weise erweiterte Goethe in seinem Brief mithin den »narrative[n] Kern in Form einer Erinnerungserzählung«, die speziell an den früheren regen Wechsel von Briefen und Geschenken anknüpfte und mit dem Glas und dessen Gebrauch eine Erneuerung erfuhr.11 »Hudhud im Eckchen« ist dabei nicht nur metaphorisch gegenwärtig: Goethe kann ganz konkret einem Wiedehopf zutrinken, der in Form des Knaufes eines hölzernen Wanderstabs in seinem Arbeitszimmer in der Ecke stand – ein Geschenk von Marianne von Willemer zu Goethes 70. Geburtstag im Jahr 1819.12 Glasklares Souvenir Die stete Gefahr des Souvenirs, seine Erinnerungsfunktion zu verlieren, das heißt der memorialen Aufwertung verlustig zu gehen, wird an diesem Andenkenbecher besonders deutlich. Bei der Inventarisierung nach Goethes Tod fiel den Sekretären zwar ein »großer gläserner Becher mit vier Medaillons, Ansichten von Baden« auf,13 doch übersahen sie wohl die Ziffer 1829 und auch die Versalien im Fuß. Anscheinend wurde der Zusammenhang mit Marianne von Willemer nicht hergestellt, sonst hätten die Mitarbeiter das Geschenk wahrscheinlich nicht auf eine ganz besondere Liste gesetzt. In den Acta heißt es nämlich am 21. April 1832: »Heute wurden nachfolgende Stücke, welche großentheils früher schon verzeichnet worden, aus vorgefundenen Schubfächern und Reposituren herausgenommen und an Frau Geh. Cammerräthin von Goethe zu GeschenDivan gründete die langjährige Freundschaft zu Marianne von Willemer. 10 Der Wiedehopf – ›Hudud‹ im Arabischen (und zugleich als onomapoetischer Name auf den signifikanten Ruf des Vogels anspielend) – ist immer wieder präsent in Goethes und Willemers Austausch, in Form von Gedichten und mindestens einem weiteren Präsent: einer runden Schachtel mit einer kolorierten Federzeichnung des Tieres auf dem Deckel, die Goethe wohl zu Weihnachten 1820 an Marianne sandte. Vgl. Perels 1985, S. 61. Zur Rolle von »Hudhud« als Liebesbote vgl. FA II, 8, S. 648 sowie FA II, 9, S. 339. 11 Bauer 2011, S. 136. 12 KSW, Museen, Inv.-Nr. Gkg/00712. Im obigen Brief zitiert Goethe in Teilen wörtlich ein Gedicht, das er als Erwiderung auf den erhaltenen Spazierstock schrieb: »Hudhud auf dem Palmensteckchen/ Hier im Eckchen, / Nistet, äugelnd, wie charmant! / Und ist immer vigilant.« FA I, 3.1, S. 612. 13 KSW, GSA, Sign. 38/N1, unpag. [fol. 24v].
84 ken an Freunde des Verewigten abgegeben.«14 Es folgt eine Liste mit 59 Einträgen, die sämtlich Objekte aus Goethes Privaträumen betreffen und offenbar als verzichtbare Stücke galten, mit denen Ottilie von Goethe immerhin noch »Freunde des Verewigten« bedenken durfte. Der Glaspokal wurde auf diese Weise zu einer Goethe-Devotionalie und verlor auf eine radikalere Weise seine Eigenschaft als Andenken als das Karlsbader Glas, dessen Kontext zumindest erhalten blieb. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die Nachlassverwalter dieses Andenken einer sehr nahen Freundin Goethes ausgesondert hätten, wenn ihnen die eingeschnittenen Zeichen aufgefallen wären. Unter den 59 Gegenständen findet sich nur einer, der explizit einer Person zugeordnet wird und damit seine persönliche Provenienzgeschichte ›zur Sprache bringt‹: »Ein blaues Geldbörschen mit silbernem Verschluß, Geschenk von Carlyle 1827«.15 Auch dieses Souvenir gehörte ursprünglich zu einem kleinen Objektverbund, bestehend aus einer Silhouette von Jane Carlyle und einer Haarlocke, die beide bereits am 31. März 1832 inventarisiert worden waren. Interessanterweise wurden die Haarlocke und die Silhouette nicht als potenzielle Geschenke segregiert. Dies mag vielleicht daran liegen, dass sie derart personenbezogen und, wie es häufig solchen intimen Souvenirs eigen ist, weder kunsthandwerklich noch ästhetisch von Wert waren. Anscheinend ließ sich die Haarlocke einer schottischen Verehrerin, die ehemals in Goethes Besitz war, nicht gut in den Handel mit Goethe-Devotionalien einspeisen – eine feine Häkelarbeit aus Seide und Perlen mit silbernem Verschluss, den der Name »J. W. v. Goethe« ziert, hingegen schon. Während die Herkunft der Geldbörse schriftlich festgehalten wurde, um sie dann als verzichtbares Gut Ottilie zuzusprechen, wurde der Pokal anscheinend ›unerkannt‹ weitergegeben. Infolgedessen scheint Mariannes Andenken tatsächlich verschenkt oder auf andere Weise aus dem Nachlass entfernt worden zu sein, denn es wurde erst 1913 wieder für das Goethe-Nationalmuseum angekauft.16 So einprägsam die Versalien von Mariannes Namen den Fuß des Glaspokals auch zieren, waren sie wohl doch zu unauffällig, um die Aufmerksamkeit der Sekretäre zu erregen. Schließlich unterscheiden sich die Gläser in ihrer Eigenschaft als Erinnerungsstücke auch auf einer qualitativen Ebene. Goethe erhielt das Karlsbader Trinkglas aus Anlass seines Geburtstags, den er gemeinsam mit den Geberinnen verbrachte. Er konnte also ein selbst erlebtes, zwischenmenschliches Ereignis an das Glas knüpfen und ihm eigene Erinnerungen implementieren. Der Pokal von Marianne hingegen ist zwar auch ein Geburtstagsgeschenk, jedoch musste sie Goethe die daran gebundenen Zusammenhänge mitteilen. So sind es zunächst die eigenen Erfahrungen der Geberin in Baden- 14 KSW, GSA, Sign. 38/N1, fol. 22v. 15 KSW, GSA, Sign. 38/N1, fol. 22v. In den silbernen Bügelverschluss ist eine Widmung graviert: »To J. W. v. Goethe From Jane W. Carlyle Edinburgh 1827«. Einzelobjektreport, KSW, Museen, Inv.-Nr. GKg/00548. Jane Carlyle war die Ehefrau des Historikers, Schriftstellers und Übersetzers Thomas Carlyle, der unter anderem Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre übersetzte sowie eine Biografie Friedrich Schillers schrieb, für die Goethe wiederum ein Vorwort verfasste. Goethe und das Ehepaar Carlyle standen in brieflichem Austausch, der auch den Wechsel – zumindest vonseiten Jane Carlyles – solch klassischer Andenken wie Haarlocke, Silhouette und Brieftasche umfasste. Vgl. zu
85 Baden, an die das Glas erinnern möchte. Goethe griff Willemers memorialen Gedanken in seinem Brief auf und folgte zunächst ihrer Erinnerungserzählung, dass sie nämlich im Jahr 1829 in der Nähe des Schlosses Favorite untergebracht sei. In einer charmanten Wendung rief er jedoch eine weitere, mehr sentimentale Erinnerung wach: jene an Hudhud und seine vormals geschäftigen Botengänge in eben jener Region. Auf diese Weise eignete Goethe sich den Glaspokal an, assoziierte mit ihm seine eigenen Erinnerungen und vermehrte den memorialen Wert des Objekts. So macht Goethes Brief auch deutlich, dass an Gegenstände geknüpfte Erinnerungen nicht festgeschrieben sein müssen und die im Umgang mit einem Andenken stattfindenden kognitiven Prozesse kaum zu steuern sind. Es ist die Handhabung des Trinkgefäßes, das zweimalige Zutrinken – Richtung Marianne und Richtung Hudhud –, also die Benutzung des Pokals, die von Goethe mit dem Akt der Erinnerung synchronisiert wurde. Wie schon beim Karlsbader Glas formulierte Goethe in der Geste des Zutrinkens eine Berührung, wenn auch aus der Ferne. Doch gingen das angedeutete Anstoßen mit dem Becher in der erhobenen Hand und das Anstoßen von Gedanken Hand in Hand. Die geschliffene Abbildung der Favorite scheint eher der Punkt zu sein, von dem aus Goethe eigene Erinnerungswege beschritt, während der eingeschliffene Name Mariannes, der das Glas unauffällig, jedoch unlösbar mit der Freundin verbindet, keine Erwähnung fand. Karlsbad und Favorite Ausgehend von der überlieferten Aufbewahrungssituation eröffnen die geschnittenen und geschliffenen Inschriften (und Bilder) den Kontext der Souvenirs. Sie zeigen die Verbindungen zu soziokulturellen Praktiken im Allgemeinen und zur Erinnerungskultur Goethes und seiner Freundinnen im Speziellen auf. Literatur- und sprachwissenschaftliche Ansätze tragen ebenso zur Untersuchung der ›Sprache der Objekte‹ bei wie ein praxeologischer Zugang hinsichtlich der soziologischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge. Im Vordergrund stehen die aisthetischen Dimensionen der beschriebenen Objekte und ihre Einbettung in Praktiken des Erinnerns und Schreibens sowie in die Kulturpraktiken ihrer jeweiligen Erwerbungs- beziehungsweise Entstehungskontexte. Beide Gläser bleiben dabei jedoch keine solitären Objekte der Beobachtung, wie es ihre Präsentation in der Goethe-Ausstellung der Klassik Stiftung Weimar seit 2012 beziehungsweise im Goethe-Wohnhaus suggerieren mag.17 Vielmehr lagern sich jedem Thomas Carlyles Verhältnis zu Goethe und seinem Einfluss auf die Rezeption deutscher Literatur in Großbritannien: Reed 1996. 16 Vgl. Einzeldatenreport, KSW, Museen, Inv.-Nr. KKg/00663. 17 Wenn die Objekte nicht in Ausstellungskontexten gezeigt werden, lagern sie in der Regel im Zentralen Museumsdepot der Klassik Stiftung Weimar, wo sie nach sammlungsspezifischen und museologischen Kriterien archiviert werden. In dieser Aufbewahrungssituation geht es nicht darum, Objektzusammenhänge und Überlieferungsstrukturen sichtbar zu machen, sondern die Objekte je nach Material und Form unter bestmöglichen konservatorischen Bedingungen aufzubewahren.
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