Leseprobe

64 Bäderglas und Kulturpraxis Zum florierenden Bädergeschäft gehörte der Verkauf von Gläsern aller Art, dazu zählten neben Fertigwaren auch solche, die auf Wunsch der Käufer:innen individualisiert wurden. In seiner zylindrischen Grundform ist das Karlsbader Glas ein eher schlichtes Trinkglas, dessen Kristallkörper jedoch durch die Verzierung mit geschliffenen und gesteinelten Bändern, Rillen und Rauten aufgewertet wird und im Etui ein ebenso schmuckvolles wie praktisches Behältnis findet. Die Kurgäste brachten ihre persönlichen Gläser oder Becher mit an den Brunnen, wo sie sich entweder selbst bedienten oder dienstfertige »Schöpfer« 24 bereitstanden, um die Gefäße zu füllen. Einige Brunnenanlagen boten zudem die bequeme Möglichkeit, den eigenen mitgebrachten Becher oder das Glas in einem dafür gefertigten Regal zu deponieren, um es bei Bedarf vor Ort benutzen zu können.25 Oesterle bringt die besonderen gesellschaftlichen Dynamiken und die Einbindung der memorablen Accessoires in den Kurorten auf den Punkt, denn in den Bädern »ist ein anderer kultureller Habitus angesagt: Diätetik und Erotik. Damit beginnt eine Kultur des Indirekten und Ephemeren. […] Mit den Bäderandenken entwickelte sich eine reizvolle Mischung aus kommerzieller Ware und individueller Überformung, aus temporärem Gebrauch und repräsentativer Schönheit.«26 Trinkgläser wie jenes, das die Familie Levetzow Goethe schenkte, waren durchaus für diese kulturelle Praxis bestimmt und nicht nur ein Andenken und Anschauungsobjekt für die Vitrine zu Hause.27 Goethes eigentliche Trinkkur fand bereits in Marienbad vom 2. Juli bis 20. August 1823 statt, weshalb ein konkreter Gebrauch am Brunnen in Karlsbad eher unwahrscheinlich, gleichwohl nicht ausgeschlossen ist. Denkbar ist auch, dass er das Glas zumindest in seiner Unterkunft benutzte, wo er täglichen Umgang mit Mutter und Tochter Amalie, Ulrike und Bertha Levetzow pflegte, und es auf seiner Rückfahrt als Reisebecher benutzte. Es ist außerdem nicht auszuschließen, dass die Levetzows Goethes Wahlverwandtschaften gelesen und sich mit ihm darüber unterhalten hatten. Denn auch hier verdichten sich in einem gravierten Glas zahlreiche Implikationen, wenn Eduard zu Mittler sagt: 24 Nový und Havlíčková 2009, S. 214. 25 Vgl. ebd. Die chemische Zusammensetzung und die heilsamen Wirkungen des Mineralwassers wurden schon früh untersucht, womit sich zum Teil komplexe Kuranweisungen entwickelten. So weist Goethes Arzt in Weimar und späterer Leibarzt Friedrich Wilhelm III., Christoph Wilhelm Hufeland, unter anderem auf die Vorzüge des direkt an der Quelle getrunkenen Wassers hin: »Unstreitig ist der Gebrauch der Mineralwasser unmittelbar aus der Quelle, d. h. aus den lebendigen Händen der Natur selbst, der einzig wahre, und bei welchem allein man das Naturproduct ganz, in seiner vollen Kraft und Reinheit, genießt. [...] [S]o, daß man sie, genau genommen, unmittelbar aus der Quelle mit den Lippen trinken sollte, (so wie der Säugling nur unmittelbar aus seiner Mutterbrust die wahre Lebensmilch trinkt); und, da sich dies nicht wohl thun läßt, wenigstens in der möglichsten Schnelligkeit den Becher zum Munde führen sollte; denn gewiß ist jeder Augenblick Verzögerung auf diesem Wege mit großem Verluste der Heilkraft verbunden.« Hufeland 1815, S. 13. Dessen ungeachtet

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