Leseprobe

65 Mein Schicksal und Ottiliens ist nicht zu trennen und wir werden nicht zu Grunde gehen. Sehen Sie dieses Glas! Unsere Namenszüge sind darein geschnitten. Ein fröhlich Jubelnder warf es in die Luft; niemand sollte mehr daraus trinken; auf dem felsigen Boden sollte es zerschellen, aber es ward aufgefangen. Um hohen Preis habe ich es wieder eingehandelt, und ich trinke nun täglich daraus, um mich täglich zu überzeugen: daß alle Verhältnisse unzerstörlich sind, die das Schicksal beschlossen hat.28 An dem Roman hatte Goethe während seines Kuraufenthalts in Böhmen im Jahr 1808 intensiv gearbeitet und so wird das derart materialisierte Motiv der fragilen und zugleich unzertrennbaren zwischenmenschlichen Beziehung 15 Jahre später aktualisiert. Glas – Schrift – Andenken Wie dieses spezielle Souvenir seine polyvalenten Funktionen darüber hinaus in der Andenkenkultur Goethes entfaltete, macht ein weiterer Brief deutlich, den Goethe im April 1824 an Amalie von Levetzow schrieb: Indessen bleibt der zierliche Becher der Vertraute meiner Gedancken, die süßen Namenszüge nähern sich meinen Lippen, und der 28te August, wenn es nicht soweit hin wäre, wollte mir die erfreulichste Aussicht geben. Ein trautes Anstoßen und so weiter unwandelbar Goethe.29 Zurück in Weimar diente das Souvenir der Vergegenwärtigung der Damen Levetzow und des gemeinsam verbrachten Geburtstags. Noch einmal kommt Goethe auf das Geschenk zu sprechen, synchronisiert die Handhabung des physisch manifesten Andenkens mit dem Erinnern und knüpft daran die Hoffnung auf eine zukünftige Erneuerung des im Glas eingeschriebenen denkwürdigen Anlasses. Die explizite Intimität dieses Erinnerungsakts gründet in erster Linie auf der erotisch konnotierten Berührung des Glases und damit der eingravierten Namen durch die Lippen. In einer kühnen Umkehrung der Akteure teilt Goethe den Namenszügen sogar den aktiven Part wurden Mineralwässer zu einem veritablen Exportgut der Heilbäder und Goethe trank es etwa bei schlechtem Wetter auch auf seiner Stube. Vgl. Eidloth 2012, S. 19. 26 Oesterle 2006, S. 35. 27 Vgl. die z. T. mit religiösen Motiven, Jagdszenen, Ansichten und Porträts aufwendig verzierten, auch farbig gestalteten Gläser und Pokale des Biedermeiers aus Böhmen und die eher schlichten, vorgefertigten Badebecher und -gläser in: Nový und Havlíčková 2009. Das goethesche Trinkglas mit den Namenszügen und der Andenkeninschrift nimmt sich hier eher einfach aus und weist in Form und Größe deutlich auf seinen Gebrauchscharakter hin. 28 FA I, 8, S. 390. Möglich ist zudem, dass Goethe mit seinen Freundinnen über die Wahlverwandtschaften und seine Arbeit daran gesprochen hat. Charlotte Kurbjuhn betont darüber hinaus den Fetischcharakter des Glases in den Wahlverwandtschaften, das den beiden Protagonisten Eduard und Ottilie als Liebespfand diente. Vgl. Kurbjuhn 2012, S. 304. 29 Goethe an Amalie von Levetzow, 13. 4. 1824, in: MA II, 10, Nr. 108, S. 156.

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