66 in dieser Handlung zu, als ob nicht er den Becher hielte und zum Mund führte, sondern die Namen sich ganz ohne sein Zutun seinen Lippen näherten.30 Ein Detail der im Material realisierten Schriftzüge ist dabei ganz wesentlich: Die Buchstaben sind in latinisierter Schreibschrift ausgeführt und so muten sowohl der Appell des »Andenken den 28. August 1823. in Carlsbad« als auch die Namen »Ulrike«, »Bertha« und »Amelie« handschriftlich geschrieben an.31 Der Glasschneider imitierte zudem das Schreiben mit Feder, indem er die ›Strichstärke‹ je nach ›Zugrichtung‹ ab- und zunehmen ließ (Abb. 5).32 Diese Mimesis von Handschriftlichkeit scheint für ihn von höherem Aufwand gewesen zu sein, denn die Bögen und angedeuteten Ligaturen der Buchstaben weisen – in einer vielfachen Vergrößerung – deutlich mehr Bearbeitungsspuren auf als die Auf- und Abstriche. Seine Erklärung findet dies in der Technik des Gravierens, die im Folgenden kurz erläutert werden soll: Für seine Arbeit saß der Graveur an einer fußbetriebenen Maschine, deren Bewegung auf ein rotierendes Kupferrädchen übertragen wurde, »das sich um eine starre, horizontale Achse dreht«. Doch »[n]icht das weiche Kupferrädchen schneidet das harte aber spröde Glas, sondern ein mehr oder weniger feinkörniger, abrasiver, dünnflüssiger Brei: der Schmirgel, den damals jeder Graveur selbst hergestellt hat«. Der Graveur hält das Glas in beiden Händen und drückt es von »unten an das Kupferrädchen«, das seine Sicht auf die Gravur dadurch stets behindert. »Um sehen zu können, was er soeben geschnitten hat, muss der Graveur seine Arbeit unterbrechen und den Schmirgel vom Glas wegwischen.«33 Auf ein Tausendstel Millimeter genau führte der Künstler das Glas und benötigte für diese Tätigkeit ausreichend Tageslicht, da Kerzen oder Öllampen zu wenig Helligkeit spendeten. Aufgrund der fixierten Ausrichtung des Kupferrädchens mussten die Bäuche, Bögen und Kurven der Buchstaben folglich durch eine Aneinanderreihung vieler kleiner ›Einzelstriche‹ zusammengesetzt werden. Eine Schreibschrift zu gravieren – auch wenn es sich um die beinahe schnörkellose lateinische handelte –, wird demnach tendenziell heikler gewesen sein, als etwa Versalien in Fraktur zu schleifen. Der Glasschneider beließ die Buchstaben außerdem matt, er polierte die geschliffene Oberfläche nicht auf Glanz und kaschierte die unmittelbaren Spuren der Bearbeitung des Materials nicht. Ohne Politur erhält sich eine Art Unmittelbarkeit des Schriftzugs dieser mit maschineller Hilfe produ30 Das Verschieben der Verantwortung des eigenen Handelns auf ein Objekt beobachtet auch Anne Bohnenkamp-Renken in Bezug auf die Schreibfeder. Diese dient Goethe insbesondere in Briefen an Charlotte von Stein »als eigenmächtige Instanz, der das Begehren des Briefschreibers zugeschrieben werden kann«. Bohnenkamp 2008, S. 24. In einer sinnfälligen Analogie zu den Namenszügen, die sich seinen Lippen nähern, agiert auch die Feder eigenmächtig: »Aus Zerstreuung tauch ich eben die Feder in den brennenden Wachsstock der auf dem Tische bey mir steht, sie scheint nach dem hefftigsten und reinsten Element zu verlangen, da ich im Begriff war Ihnen zu sagen daß ich Sie unendlich liebe.« Goethe an Charlotte von Stein, 3. 3. 1781, in: Goethe 2020, Nr. 309, S. 218. 31 Die Vielfalt und Kunstfertigkeit in der Ausführung von gravierten Schriften auf Gläsern des Biedermeiers ist beeindruckend und im Vergleich zu manch anderen ist die Inschrift des Karlsbader Glases relativ schlicht gehalten. Ohne dies
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