82 Willemer stiftete den Anlass der Erinnerung, indem sie den Pokal schriftlich auszeichnen ließ und in ihrem Brief das entsprechende Narrativ lieferte. Im Glas materialisiert sich die von ihr initiierte Dialektik des Andenkens – sie dachte an Goethe beim Schenken und Schreiben, er hingegen sollte ihrer beim Anblick und Gebrauch des Glases gedenken. Unklar ist, ob Willemer den Pokal mit den bereits geschliffenen Ansichten aussuchte und dann zusätzlich das Datum und ihren Namen schneiden ließ. Dafür spricht, dass die Jahreszahl außerhalb des Ovals und ohne eigene Rahmung platziert ist, wodurch es tatsächlich wie ein Paralipomenon aus der symmetrischen Gesamtgestaltung herausfällt. Denkbar ist, dass der Fuß erst auf Wunsch der Kundin in acht Facetten aufgeteilt wurde, um ihren Namen passgenau einsetzen lassen zu können. Das »Bildchen« des Schlosses mit der untertitelnden Jahreszahl verknüpft Willemer mit ihrer nahe gelegenen Unterkunft, in der sie schreibend ihres Freundes anlässlich seines Geburtstags im Jahr 1829 gedachte. Wie von selbst ergibt sich dabei die Überblendung des Schlosses Favorite mit der Freundin als ›Favoritin‹ vor vielen anderen. Goethes Antwortbrief ist zu entnehmen, dass er diese Engführung durchaus wahrgenommen hat: Nun aber muß ungesäumt berichtet werden: daß zur besten Stunde ein köstliches Glas mit mancherlei guten Abbildungen angekommen und sogleich zu einem dankbaren Erwiderungstrunke Gelegenheit und Anregung gegeben hat. Es ist artig zu bemerken, daß das Lokal einer Favorite einer von der Natur und den Freunden höchst begünstigten Wandernden zum Aufenthalt dienen sollte, in einer Gegend, wo noch von frühern Zeiten her Hudhud im Eckchen seine Rechte behauptet, einigermaßen trauernd, daß er nicht immer fort und fort wie sonst mit anmutigen Aufträgen in Bewegung gehalten wird. Zu einiger Beruhigung ward ihm aus dem neuangekommenen Glase zugetrunken, und er schien diese Begrüßung nicht unfreundlich aufzunehmen.5 Ohne das entscheidende Komma zur semantischen Gliederung bietet der Nebensatz »daß das Lokal einer Favorite einer von der Natur und den Freunden höchst begünstigten Wandernden zum Aufenthalt dienen sollte« beide Lesarten: Im Favorite genannten »Lokal« hält sich die allseits begünstigte Marianne von Willemer auf, oder die Favorite, sprich die Freundin, wird von den anschließenden Zuschreibungen noch näher bestimmt.6 Als »köstlich« bezeichnete Goethe schon das Karlsbader Trinkglas und wie jenem ist ihm eine Agency 5 Goethe an Marianne von Willemer, 30. 9. 1829, in: Goethe 1995, Nr. 184, S. 220 [Hervorhebung im Original]. 6 Dass das Lustschloss nahe Rastatt Willemer als Aufenthaltsort diente, scheint ein Missverständnis seitens Goethe gewesen zu sein. Vgl. Goethe 1995, Anmerkung zu Nr. 184, S. 452. 7 Das Glas ist vermutlich von den Glashändlern Franz Pelikan und Hoffmann aus Meistersdorf in Böhmen gefertigt worden, die während der Bädersaison in Baden-Baden ihr Geschäft betrieben, »ihre Spezialität war es, auf ›Gläser aller Art ... nach Verlangen Landschaften, Figuren, Wappen und Schrift‹ zu schneiden«. Ebd. 8 Vgl. etwa Goethe an Jakob von Willemer, 22. 12. 1820, in: Goethe 1995, Nr. 93, S. 104 und hierzu die Anm. S. 397. 9 Goethe war zunächst im Herbst 1814 für mehrere Tage zu Besuch bei den Willemers und verbrachte 1815 seinen Geburtstag auf der Gerbermühle nahe Frankfurt, dem Sommersitz der Willemers. Auf dieser gemeinsamen Zeit und der produktiven Anteilnahme am West-östlichen
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1