Leseprobe

83 eigen, die »Gelegenheit und Anregung« zum Gebrauch gab, welche schriftlich ausgebreitet wurden. Den Namen der Freundin konnte Goethe zwar nicht wie beim »holden Glas« zu den Lippen heben, doch fußt der Pokal und damit die Erinnerung auf diesem.7 Auch dieses Glas ist noch in weiterer Hinsicht ein sinnfälliges Souvenir, das seine Benutzung geradezu einfordert: Das Ehepaar Willemer schickte Goethe in regelmäßigen Abständen Wein, der aus eben diesem Glas getrunken werden konnte.8 Statt an die diätischen Wasserkuren in Böhmen zu erinnern, wurde dieser Pokal mit Wein gefüllt und in Erinnerung an eine andere, südlich gelegene Landschaft und frühere Heimat prostete Goethe der Freundin zu.9 Goethe nahm das Geschenk darüber hinaus zum Anlass, einen besonderen Aspekt ihrer Freundschaft in Erinnerung zu rufen: Hudhud, der Wiedehopf und eigentümliche Bote während der langjährigen Beziehung im Zeichen des West-östlichen Divan.10 Auf diese Weise erweiterte Goethe in seinem Brief mithin den »narrative[n] Kern in Form einer Erinnerungserzählung«, die speziell an den früheren regen Wechsel von Briefen und Geschenken anknüpfte und mit dem Glas und dessen Gebrauch eine Erneuerung erfuhr.11 »Hudhud im Eckchen« ist dabei nicht nur metaphorisch gegenwärtig: Goethe kann ganz konkret einem Wiedehopf zutrinken, der in Form des Knaufes eines hölzernen Wanderstabs in seinem Arbeitszimmer in der Ecke stand – ein Geschenk von Marianne von Willemer zu Goethes 70. Geburtstag im Jahr 1819.12 Glasklares Souvenir Die stete Gefahr des Souvenirs, seine Erinnerungsfunktion zu verlieren, das heißt der memorialen Aufwertung verlustig zu gehen, wird an diesem Andenkenbecher besonders deutlich. Bei der Inventarisierung nach Goethes Tod fiel den Sekretären zwar ein »großer gläserner Becher mit vier Medaillons, Ansichten von Baden« auf,13 doch übersahen sie wohl die Ziffer 1829 und auch die Versalien im Fuß. Anscheinend wurde der Zusammenhang mit Marianne von Willemer nicht hergestellt, sonst hätten die Mitarbeiter das Geschenk wahrscheinlich nicht auf eine ganz besondere Liste gesetzt. In den Acta heißt es nämlich am 21. April 1832: »Heute wurden nachfolgende Stücke, welche großentheils früher schon verzeichnet worden, aus vorgefundenen Schubfächern und Reposituren herausgenommen und an Frau Geh. Cammerräthin von Goethe zu GeschenDivan gründete die langjährige Freundschaft zu Marianne von Willemer. 10 Der Wiedehopf – ›Hudud‹ im Arabischen (und zugleich als onomapoetischer Name auf den signifikanten Ruf des Vogels anspielend) – ist immer wieder präsent in Goethes und Willemers Austausch, in Form von Gedichten und mindestens einem weiteren Präsent: einer runden Schachtel mit einer kolorierten Federzeichnung des Tieres auf dem Deckel, die Goethe wohl zu Weihnachten 1820 an Marianne sandte. Vgl. Perels 1985, S. 61. Zur Rolle von »Hudhud« als Liebesbote vgl. FA II, 8, S. 648 sowie FA II, 9, S. 339. 11 Bauer 2011, S. 136. 12 KSW, Museen, Inv.-Nr. Gkg/00712. Im obigen Brief zitiert Goethe in Teilen wörtlich ein Gedicht, das er als Erwiderung auf den erhaltenen Spazierstock schrieb: »Hudhud auf dem Palmensteckchen/ Hier im Eckchen, / Nistet, äugelnd, wie charmant! / Und ist immer vigilant.« FA I, 3.1, S. 612. 13 KSW, GSA, Sign. 38/N1, unpag. [fol. 24v].

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1