Leseprobe

85 Baden, an die das Glas erinnern möchte. Goethe griff Willemers memorialen Gedanken in seinem Brief auf und folgte zunächst ihrer Erinnerungserzählung, dass sie nämlich im Jahr 1829 in der Nähe des Schlosses Favorite untergebracht sei. In einer charmanten Wendung rief er jedoch eine weitere, mehr sentimentale Erinnerung wach: jene an Hudhud und seine vormals geschäftigen Botengänge in eben jener Region. Auf diese Weise eignete Goethe sich den Glaspokal an, assoziierte mit ihm seine eigenen Erinnerungen und vermehrte den memorialen Wert des Objekts. So macht Goethes Brief auch deutlich, dass an Gegenstände geknüpfte Erinnerungen nicht festgeschrieben sein müssen und die im Umgang mit einem Andenken stattfindenden kognitiven Prozesse kaum zu steuern sind. Es ist die Handhabung des Trinkgefäßes, das zweimalige Zutrinken – Richtung Marianne und Richtung Hudhud –, also die Benutzung des Pokals, die von Goethe mit dem Akt der Erinnerung synchronisiert wurde. Wie schon beim Karlsbader Glas formulierte Goethe in der Geste des Zutrinkens eine Berührung, wenn auch aus der Ferne. Doch gingen das angedeutete Anstoßen mit dem Becher in der erhobenen Hand und das Anstoßen von Gedanken Hand in Hand. Die geschliffene Abbildung der Favorite scheint eher der Punkt zu sein, von dem aus Goethe eigene Erinnerungswege beschritt, während der eingeschliffene Name Mariannes, der das Glas unauffällig, jedoch unlösbar mit der Freundin verbindet, keine Erwähnung fand. Karlsbad und Favorite Ausgehend von der überlieferten Aufbewahrungssituation eröffnen die geschnittenen und geschliffenen Inschriften (und Bilder) den Kontext der Souvenirs. Sie zeigen die Verbindungen zu soziokulturellen Praktiken im Allgemeinen und zur Erinnerungskultur Goethes und seiner Freundinnen im Speziellen auf. Literatur- und sprachwissenschaftliche Ansätze tragen ebenso zur Untersuchung der ›Sprache der Objekte‹ bei wie ein praxeologischer Zugang hinsichtlich der soziologischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge. Im Vordergrund stehen die aisthetischen Dimensionen der beschriebenen Objekte und ihre Einbettung in Praktiken des Erinnerns und Schreibens sowie in die Kulturpraktiken ihrer jeweiligen Erwerbungs- beziehungsweise Entstehungskontexte. Beide Gläser bleiben dabei jedoch keine solitären Objekte der Beobachtung, wie es ihre Präsentation in der Goethe-Ausstellung der Klassik Stiftung Weimar seit 2012 beziehungsweise im Goethe-Wohnhaus suggerieren mag.17 Vielmehr lagern sich jedem Thomas Carlyles Verhältnis zu Goethe und seinem Einfluss auf die Rezeption deutscher Literatur in Großbritannien: Reed 1996. 16 Vgl. Einzeldatenreport, KSW, Museen, Inv.-Nr. KKg/00663. 17 Wenn die Objekte nicht in Ausstellungskontexten gezeigt werden, lagern sie in der Regel im Zentralen Museumsdepot der Klassik Stiftung Weimar, wo sie nach sammlungsspezifischen und museologischen Kriterien archiviert werden. In dieser Aufbewahrungssituation geht es nicht darum, Objektzusammenhänge und Überlieferungsstrukturen sichtbar zu machen, sondern die Objekte je nach Material und Form unter bestmöglichen konservatorischen Bedingungen aufzubewahren.

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