170 Unter den nachgelassenen Objekten des goetheschen Haushalts gibt es zahlreiche sprachlich versierte Gegenstände. Dank ihres besonderen Verhältnisses von Materialität und Schriftlichkeit entfalten sie eine spezifische Sprachmacht, die sie zu besonderen Akteuren in unterschiedlichen Praktiken macht. Aufgrund der außergewöhnlich dichten Überlieferungskette der Goethe-Bestände in der Klassik Stiftung Weimar ist es möglich, viele dieser beschriebenen Objekte zu (re-)kontextualisieren, die Handlungen nachzuvollziehen, in die sie eingebunden waren, und ihre diversen Statuswechsel bis zur heutigen musealen Rahmung zu reflektieren. Die Gruppe der hier untersuchten Gegenstände unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von Tausenden anderen schriftlich zugerichteten Objekten in Goethes Nachlass. Anders als etwa die wissenschaftlichen Gegenstände wie Mineralien und Gesteine bilden diese Varia keine homogene Kollektion, wurden sie weder zur Goethezeit noch unter heutigen musealen Bedingungen in eine sinnfällige Ordnung gebracht. Während die Objekte der geologischen Sammlung zum großen Teil systematisch schriftlich zugerichtet wurden – mit Etiketten versehen, in beschrifteten Sammlungsbehältnissen aufbewahrt, in gekennzeichneten Schubladen und Möbeln verstaut sowie in Inventaren verzeichnet –, weisen die Objekte dieser Untersuchung schriftliche Auszeichnungen unterschiedlichster Art auf. Mehr noch: Im Grunde waren sie nicht für eine solche vorgesehen oder geeignet, sei es, weil ihre Form einem gelungenen Schreibakt entgegenstand, sei es, weil ihr Material sich der Beschriftung widersetzte oder besondere Fertigkeiten verlangte. Doch gerade die kontraintuitiven Schreibakte und das Zusammenspiel der widerständigen Materialien lassen diese Objekte aufzeigen und über ihre Sprach- und Handlungsmacht nachdenken. Indem sie in verschiedener Weise ihre Beschriftung provozierten, beanspruchten sie nicht nur auch nachfolgend eine besondere Aufmerksamkeit, sondern machten gleichzeitig im historischen Kontext und in ihrer musealen Biografie ihre Eigenständigkeit geltend. Die Varia unterscheiden sich von herkömmlichen Schriftträgern in dem Maße, wie ihre Formen und Materialien mit den aufgedruckten, geschliffenen oder handschriftlichen Graphen in eine wechselseitige Abhängigkeit treten: Erst durch die materielle Verbindlichkeit von Textträger und Text entwickeln die Objekte – wie gezeigt – ihre außergewöhnliche Sprachmacht. Die schriftliche Komponente ist dabei nicht Supplement des Schriftträgers, sondern wird zum integralen Bestandteil des Gegenstands. Ohne die Graphe verstummt dieser zwar nicht gänzlich, jedoch geht ihm ein entscheidender Teil seiner Kommunikationsdispositive verloren. Schon vor ihrer schriftlichen Zurichtung waren die Objekte in soziokulturelle Praktiken eingebunden, als Waren speisten sie den Handel, als Gaben und Alltagsgegenstände zirkulierten sie unter Freund:innen und in der Familie. Als Akteure in diesen Handlungsfeldern wurden sie in einem nächsten Schritt als Schriftträger ausgewählt, nicht etwa, weil sie sich als solche aufgrund ihrer Beschaffenheit anboten – im Gegenteil. Handschuhleder eignet sich kaum als Schreibgrund, Glasinschriften können nur mit hohem Aufwand realisiert werden, lackiertes Eisenblech ist ein denkbar ungewöhnlicher Schriftträger. Es war vielmehr bereits Teil ihrer Agency, aus dem Strom
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