Leseprobe

172 typischer Bestandteil tradierter Kurpraktiken und zugleich personalisiertes Souvenir forderte es Goethe zu seinem Gebrauch auf. Sich dieser Affordanz bewusst, zelebrierte Goethe den Akt des Erinnerns zugleich brieflich, sodass das Glas zum Akteur in einer elaborierten Andenkenkultur wurde und bis heute eine prominente Stellung in den Beständen der Klassik Stiftung Weimar innehat. Ungleich intimer nahmen sich dagegen die Beschriftung und der Umgang mit den Damenhandschuhen aus, deren wenige noch lesbare Graphe zwar denselben Erinnerungshorizont aufrufen wie das Karlsbader Glas. Doch die Materialsemantik des weichen Leders, verbunden mit den soziokulturellen Implikationen dieses speziellen Erinnerungsstücks, sprechen eine andere Sprache. Goethes körperliche Aneignung der Handschuhe durch seinen versteckt aufgebrachten Hinweis – »Carlsbad den 28 August« – korrespondiert mit der Analogie zwischen schreibender Hand und beschriftetem Stellvertreter einer solchen – dem rechten Handschuh. Haptik, Farbe, Form und mutmaßliche Provenienz dieses vormals körpernah getragenen Damenaccessoires luden nicht nur zur Berührung ein, sie forderten sie geradezu heraus. Als Souvenir bilden die Handschuhe das intime Pendant zum Karlsbader Glas, sie sind zugleich schriftliche und materielle Referenten eines Ortes, eines Tages und einer geliebten Person. Die wenigen klandestinen Schriftzeichen zeigen darüber hinaus auch, wie prekär das Verhältnis von Schriftträger und Schreibmaterial werden kann, wenn die ausgewählten Materialien nicht aufeinander abgestimmt sind, wenn zweihundert Jahre nach der Beschriftung nur noch moderne fototechnische Mittel sichtbar machen, was ohnehin nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Das Sprachpotenzial dieser goetheschen Objekte entfaltete sich in einer Kombination von Schreiben, Lesen und Berühren, Emergenz und Affektion, Affordanz und Agency; eine Beobachtung, die nicht zuletzt die überkommene Vorstellung der Souveränität des handelnden Subjekts gegenüber einer passiven materiellen Welt infrage stellt. Entscheidend für die Analyse jedes einzelnen Objekts war nicht nur die genaue Betrachtung der materiellen und textuellen Gegebenheiten, sondern auch seine jeweilige Kontextualisierung. Denn Goethes »Gespräch mit den Dingen« war immer eingebettet in Kulturpraktiken wie die des Erinnerns, Schenkens, Schreibens oder Forschens, die Objekte waren Akteure in einem Netzwerk, das dank der detaillierten Überlieferungen außerordentlich gut nachvollzogen werden kann. So ließen sich Objektverbünde und Aufbewahrungssituationen rekonstruieren, die weiteren Aufschluss über den Umgang mit den Gegenständen gaben. Je enger die Objekte in dieses Netz eingebunden waren, desto größer wurden ihr sprachlicher Radius, ihre Handlungsdispositive und ihr Einfluss. Umgekehrt intensivierten sie sich, je ungewöhnlicher die objekteigene Verbindung von Schriftlichkeit und Materialität war. Ähnliche Phänomene ließen sich an den von Wolfgang Maximilian von Goethe beschrifteten Gegenständen beobachten, auch wenn sie sich in einigen wesentlichen Aspekten von den zuvor genannten unterscheiden. Gemeinsam ist allen Objekten ihre

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