Leseprobe

174 intensive Einbettung eines Objekts in ein Netzwerk aus vielfältigen Akteur:innen verhilft auch dem retrospektiven Gespräch mit den Dingen zu einem besseren Verständnis, während Vereinzelung, Kontextlosigkeit und Überlieferungsbrüche eine Analyse der Sprachmacht des Objekts erschweren, wenn nicht gar verhindern. Es ist deutlich geworden, dass es sich bei der Sprache der beschriebenen Objekte nicht allein um den semantischen Gehalt ihrer Graphe handelt; sie entsteht oder vielmehr potenziert sich im materiellen Zusammenspiel von Schriftzeichen und Schriftträger, resultiert aus Affekten und Emergenzen von Schreibgesten und Leseszenen, realisiert sich in performativen Strukturen und entfaltet sich in einem Netzwerk von Akteur:innen. Das Verständnis für die Sprache der in dieser Arbeit fokussierten Objekte wurde umso größer, je weiter der eigene wissenschaftliche Radius ausgedehnt wurde. Über den philologischen Ansatz hinaus waren materialtechnische Erkenntnisse aufschlussreich, Fachwissen etwa zu Drucktechniken, Kulturpraktiken und zur Museologie ermöglichte zudem ein breiteres epistemisches Spektrum. Theorien und Methoden der Material Culture Studies sowie der Praxeologie waren essenziell, um der Varietät und Individualität der schrifttragenden Artefakte gerecht zu werden, mithin um das literaturwissenschaftliche Close Reading der Objekte anschlussfähig zu machen. Nicht zuletzt hat dieses Forschungsprojekt einigen der Sammlungsgegenstände der Klassik Stiftung Weimar (neue) Aufmerksamkeit beschert, konnte Wissenslücken offenlegen und einige davon schließen, indem Zusammenhänge aufgezeigt wurden, wie sie etwa zwischen den beschrifteten Gegenständen von Wolfgang Maximilian bestehen – Erkenntnisse, die in die museale Dokumentation eingeflossen sind. Wenig überraschend und dennoch bemerkenswert vielseitig ist Goethes eigener elaborierter Umgang mit Schriftgut jeglicher Art, der auf den ersten Blick wenig mit seinem kanonisierten schriftstellerischen Schaffen zu tun hat, sich bei näherer Betrachtung jedoch nahtlos in sein von Literarizität bestimmtes Leben einfügt. Im Rahmen dieser Arbeit wurde ein Schlaglicht auf die enorme Bandbreite schriftlich zugerichteter Objekte in den Beständen der Klassik Stiftung Weimar geworfen. Viele weitere interessante Gegenstände harren noch der näheren Betrachtung, so etwa ein beschrifteter Papyrusstab, abgeschnittene Locken, deren Papierhüllen die Namen der Spenderinnen tragen, oder ein zerbrochenes Gipsmedaillon mit dem Konterfei Napoleons, auf dessen zusammengesetzte Scherben im Nachhinein der anscheinend denkwürdige Anlass des Zubruchgehens geschrieben wurde. Trotz der Vielfalt der hier betrachteten Objekte und aller weiteren schriftassoziierten Gegenstände in den Sammlungen, können mit den Mitteln der Literatur- beziehungsweise Sprachwissenschaft gemeinsame Strukturen in den Text-Material-Geweben sichtbar gemacht werden. Tatsächlich kann ein kritischer philologischer Blick bei entsprechender transdisziplinärer Aufgeschlossenheit viel zur Objektforschung beitragen. Vice versa öffnet sich der Philologie ein ganzer Kosmos neuer Untersuchungsgegenstände, wenn sie den Blick über die kanonisierten schrifttragenden Medien hebt und sich auf ein Gespräch mit den Dingen einlässt.

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