Leseprobe

8 Die Objekte »Der schönste Schmuck bleibt stets der Musselin.«1 Gedruckt in lateinischen Lettern steht dieser Ausspruch auf einem goldgelben Seidenband, das unter der Signatur GSA 29/550,I im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar aufbewahrt wird. Ein:e Goethe-Forscher:in denkt bei diesen Worten wahrscheinlich an den beinahe identisch lautenden Vers im Buch Suleika des West-östlichen Divan, eine:n Textilrestaurator:in interessiert hingegen das empfindliche Gewebe, ein:e Archivar:in sucht das Band sinnfällig in die Sammlungssystematik einzuordnen, während ein:e Museolog:in vielleicht die Wirkung des Objekts in einer Ausstellungsvitrine antizipiert.2 Nach der ›Sprache‹ dieses Objekts gefragt, stünden je nach Perspektive der Betrachtenden der Referenztext Divan, die Materialsemantik, die Überlieferungsgeschichte oder die historische Kontextualisierung im Fokus. Vertreter:innen der Konsumforschung, Editionsphilologie und Kulturgeschichte könnten das Spektrum mit eigenen Betrachtungsweisen erweitern. Mit Lorraine Daston ließe sich sagen, dass das Schmuckband »talkative« ist.3 Es gehört zu jenen speziellen Objekten, »that made each of us want to talk about how these particular things talk to us. They are objects of fascination, association, and endless consideration«.4 Dieses spezielle Seidenband ist gesprächig, indem seine materielle Struktur, der aufgedruckte Text sowie seine Provenienz und Präsenz nicht nur unterschiedliche Reize auslösen und Assoziationen wecken können, sondern gleichermaßen eine Vielzahl an Deutungsmöglichkeiten bieten. Es fordert die Auseinandersetzung mit ihm heraus, wir möchten über diese Wirkungen sprechen oder schreiben und werden unsererseits gesprächig. Diese Arbeit geht der Frage nach, ›wie Dinge zur Sprache kommen‹.5 Wie vermitteln bestimmte Objekte6 ihre Bedeutung, ihre Situierung in Zeit und Raum, ihre Relationen? Welcher Narrative bedienen sie sich dabei? Mit welchen Mitteln affizieren sie ihre Um1 Der Text der schrifttragenden Artefakte, die in dieser Arbeit untersucht werden, ist in der Mehrzahl der Fälle nicht historisch-kritisch ediert. Die Zitation erfolgt daher direkt von den Textträgern bzw. den Datenblatteinträgen und wird mit der Inventarnummer bzw. Signatur des Objekts belegt. Unklare Lesarten werden diskutiert. 2 In der vorliegenden Untersuchung wird i. d. R. ein Doppelpunkt zwischen männlichen und weiblichen Artikeln sowie nach einer männlichen Bezeichnung oder dem Wortstamm und vor die weibliche Endung gesetzt, um der geschlechtlichen Vielfalt bei Personenbezeichnungen gerecht zu werden. 3 Daston 2004 a, S. 21. 4 Ebd., S. 11. Im Folgenden wird Dastons Begriff »talkative« mit »gesprächig« übersetzt. 5 Dies ist zugleich das Thema des im Rahmen des BMBF-Förderschwerpunktes

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