Leseprobe

181 37 Fragment eines Missale, Sanctorale Benediktinerkloster Chemnitz, 1. Hälfte 12. Jahrhundert Pergament, 1 Blatt, 24×17 cm (oben und unten beschnitten) Universitätsbibliothek Leipzig, Fragm. lat. 193 Das Einzelblatt stammt aus einem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in einer spätkarolingischen Minuskel geschriebenen Missale und enthält die Messformulare für die Heiligenfeste vom 18. bis zum 24. Juni. Für die Gesänge verwendete man eine klei­ nere Schrift und fügte zwischen den Zeilen (interlinear) Neumen ein. Diese seit dem 9. Jahrhundert verwendeten grafischen Zei­ chen dienten der Fixierung der melodischen Gestalt eines Gesangs und können als Vor­ läufer der modernen Notation gelten. Die Rectoseite (Abb.) und der obere Teil der Versoseite (Zeile 1–16) enthalten die For­ mulare für die römischen Märtyrer Marcus und Marcellianus (18. Juni) sowie Gervasius und Prothasius (19. Juni). Danach (1v, Zeile 16–25) folgen Gebete und gekürzte Gesänge zum Fest des Priesters Albanus (21. Juni). Da über seinen Gebeinen um 805 die Benedik­ tinerklosterkirche St. Alban in Mainz errichtet worden war, wurde dieser Heilige bei den Benediktinern besonders verehrt. Am Schluss (1v, Zeile 25–28) finden sich Gesänge zur Messe am Vorabend (Vigil) des Festes der Geburt Johannes des Täufers (24. Juni). Er gehörte neben der Jungfrau Maria und dem Evangelisten Johannes zu den Patronen des Chemnitzer Klosters. Eröffnet wird die Vigil mit dem Introitus »Ne timeas, Zacharia, exau­ dita est oratio tua [...]«, der auf die von einem Engel verkündigte Geburt Johannes des Täu­ fers (Lukas 1,13–15) Bezug nimmt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Blatt aus der Handschrift Ms 436 der Leipziger Universitätsbibliothek ausge­ löst und in deren Fragmentsammlung einge­ gliedert (vgl. Kat.-Nr. 41). Die Abklatschspuren auf dem Holz des Vorderdeckels von Ms 436 zeugen von der ursprünglichen Verwendung des Fragments als Spiegel; ein noch auf dem hinteren Deckel vorhandener Streifen stammt von einem zugehörigen Blatt. Da Ms 436 laut einem Besitzeintrag aus dem Benediktiner­ kloster Chemnitz stammt, dürfte auch die in der zweiten Hälfte der 1480er Jahre bei der Neubindung verwendete Makulatur aus einer Handschrift der Klosterbibliothek stammen. Es ist somit anzunehmen, dass das Missale, aus dem dieses Blatt stammt, zum Gründungs­ bestand des Chemnitzer Klosters gehörte und das Einzelblatt neben dem Rituale in MS 850 (vgl. Kat.-Nr. 39) als eines der ältes­ ten erhaltenen Schriftzeugnisse aus diesem Kloster anzusehen ist. Nachdem 1481 in Bamberg das Bursfelder Missale (GW M24117) gedruckt und alle Kongregationsklöster vom Generalkapitel verpflichtet wurden, es zu benutzen, bestand kein praktischer Verwen­ dungszweck mehr für die Liturgica aus der Gründungszeit, die deshalb als Material für den Buchbinder zur Verfügung standen. Dass der Binder ein Blatt mit einer Messe für einen der Klosterpatrone wählte und diesem als Spiegel ein Weiterbestehen sicherte, ist sicher kein Zufall. Eine solche bewusste Aus­ wahl von Makulatur ist auch aus anderen Benediktinerklöstern (z. B. Pegau und Erfurt) bekannt. | ME Literatur Beschreibung von Ivana Dobcheva und Digitalisat des Fragments verfügbar unter: https://fragmentarium.ms/ overview/F-75k4 (letzter Zugriff am 6.7.2018). 37

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