Leseprobe

35 ruhmreiche Geschichte der staatlich gelenkten Kulturpolitik der DDR stieß. Ein Spielfilm stach dabei für mich durch seine frische, direkte und fast dokumentari- sche Erzählform besonders heraus. Es war »Jahrgang 45«, den Jürgen Böttcher 1966 gedreht hat und der erst 1990 zur Uraufführung kommen sollte. Für mich vielleicht der stärkste deutsche Spielfilm dieser Zeit, der es zwischen italienischem Neorea- lismus und französischer Nouvelle Vague durchaus auch mit amerikanischen Pro- duktionen wie »Rebel Without a Cause« aufnehmen kann. In »Jahrgang 45« gelang Jürgen Böttcher etwas, was kein Geschichtsbuch bisher bei mir geschafft hatte – ich tauchte hautnah ein in das Lebensgefühl einer Generation zwischen Kriegsende und Aufbruch; zwischen Warten und Hoffen, dass das Leben doch bald beginnen möge und man zugleich nie so werden wolle, wie die Masse im System. Die Tanzszene im Café bleibt mir dabei ganz besonders im Gedächtnis, und ohne mir damals dessen wirklich bewusst zu sein, weckte dieser Film in mir den Mut, selbst die Grenzen zwischen dokumentarischem und fiktionalem Arbeiten auszuloten. Doch dem ging drei Jahre früher eine für mich noch viel wichtigere Begegnung mit Jürgen Böttcher voraus: Wir reisten 2007 auf Einladung des Goethe Instituts mit einer Filmdelegation nach Japan und Südkorea, um dort unsere Dokumentarfilme vorzustellen. Ich hatte gerade mein Studium an der Filmhochschule abgebrochen – voller Selbstzweifel und Unsicherheiten, was das filmische Arbeiten und meine eigene Haltung dazu betraf. Ganz anders Jürgen Böttcher, der mit seinen 76 Jahren vor Energie nur so sprühte, ununterbrochen zeichnete oder mit seiner Kamera filmte. Und während manch anderer der jungen Filmschaffenden irgendwann im Bett verschwand, sang Jürgen Böttcher in einer Kneipe noch Lieder von Bertolt Brecht oder tanzte vor dem Rest der Delegation im Hotelflur eine Interpretation der Jürgen Böttcher in Japan, 2007

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