Leseprobe
37 Situation des Augenblicks fallen, offenporig und sensibel für die Reaktionen und Geschenke seines Gegenüber. Und noch ein anderes Erlebnis aus unserer gemeinsamen Japan-Reise werde ich nie vergessen: Wir saßen rauchend im Finanzviertel in Tokyo und beobachteten, wie die anzugtragenden Stützen des Systems von ihren kurzen Mittagspausen zurück in die Hochhäuser eilten. Da begann Jürgen Böttcher – zunächst scheinbar unvermittelt – zu erzählen, wie das damals war, als er im September 1966 vor dem DEFA-Studioleiter Franz Bruk und Mitarbeitern der Hauptverwaltung Film des Minis- teriums für Kultur für seinen Spielfilm »Jahrgang 45« Selbstkritik üben sollte. Wie das kleinste Rädchen im Getriebe das System am Laufen hielt und selbst Mitarbei- ter, die den Film zuvor noch gelobt hatten, nun der vorgegebenen Linie folgten. Jürgen Böttcher dagegen verweigerte sich, wohlwissend, dass sein Film dadurch wohl nie öffentlich gezeigt werden würde und es für ihn auch keine Chance auf einen weiteren Spielfilm mehr geben dürfte. 41 Jahre nach diesem Plenum stand ich nun mit ihm im Finanzzentrum von Tokyo – und er war frei von Groll. Mit einem bis heute bewahrten positiven, fast liebevollen, sensiblen Blick auf die Menschen und zugleich einer kritischen Haltung gegenüber starren politischen und wirtschaftli- chen Organisationen. Jemand wie Jürgen Böttcher weiß, dass kein System für immer bestehen muss und ist deshalb vielleicht auch freier im Hinterfragen der jeweils vorherrschenden Ordnung. Etwas, das wir alle gerade heute wieder durchaus häu- figer im Bewusstsein haben sollten. Denn auch um die Freiheit muss immer wieder und von Neuem gerungen werden. Lieber Strawalde, dafür danke ich Dir: für den Mut, selbst in den auswegloses- ten Situationen seine eigenen Ideale nicht zu verraten. Denn die begleiten uns ein ganzes Leben lang. Jürgen Böttcher in Japan, 2007
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