Leseprobe

9 Was ist ein Augenblick? Damit verbundene Vorstellun- gen, Assoziationen und metaphorische Erklärungsver- suche sind ebenso mannigfaltig wie wandelbar, denn der Blick des Auges wie der Augenblick überhaupt, in jeder seiner möglichen Bedeutungen, entzieht sich der Zeit- messung. 1 Ein Augenblick kann so kurz oder lang ver- weilen, je nachdem, wie bewusst er erlebt wird, völlig unabhängig vom Sekundenzeiger einer Uhr. Man kann im ersten oder letzten, im falschen oder passenden Au- genblick einem Menschen begegnen; in einem schöpfe- rischen ebenso wie in einem schwachen Moment eine nachhaltige Entscheidung treffen. Augenblicke bleiben episodisch, und sie sind vergänglich. Erst die Bedeutung, die ihnen beigemessen wird, lässt sie zu Erinnerung und individueller Erfahrung werden. Der »Augenblick, der sehr oft als ›Blicke des Auges‹ darge- stellt und verstanden wurde, das sind also zwei ganz verschiedene, wenn auch oft verwechselte und im Sprach- gebrauch nur unscharf voneinander getrennte Dinge«. 2 Mit dem Zauber des eingefangenen, gleichsam für die Ewigkeit konservierten Augenblicks spielen Malerei, Grafik und Skulptur in unterschiedlicher Materialität und Größe seit alters her; etwa im Porträt, in der Darstellung JUTTA KAPPEL »Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. […] Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« Walter Benjamin Einführende Betrachtungen zur Ausstellung profaner, mythologischer oder religiöser Szenen und Geschehnisse, die in einen weiten Bogen künstlerischer Abstraktion und Interpretation eingespannt sind. Die Ikonografie des Augenblicks ist jedem Kunstwerk eigen. Zudem ist die simultane Präsenz von Zeit und Raum eine seit dem Mittelalter bekannte, bis heute geläufige Me- thode »erzählender Bilder« oder bildnerischer Rhetorik, in denen der Augenblick Dauer gewinnt. 3 Künstlerische Bild(er)findungen implizieren den zeit- übergreifenden Status des Betrachters. Hat ein Kunst- werk das Atelier verlassen, so beginnt seine facettenrei- che Rezeptionsgeschichte, die maßgeblich geprägt wird durch seinen Wirkungsradius, der vom realen Lauf und den Umständen der Zeit erweitert, immer wieder neu interpretiert, aber mitunter auch zunichte gemacht wer- den kann. Wie wörtlich ist der Augenblick als kunsttheoretisches Abstraktum, als ästhetische Kategorie zu nehmen? Der Versuch einer Antwort kann freilich nur skizziert wer- den im Rahmen der einleitenden Betrachtung zur Aus- stellung, die im Titel ganz bewusst diesen vieldeutigen Begriff führt. Befragt seien, und die Auswahl mag auf den ersten Blick erstaunen, Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781), Dichter und Kunsttheoretiker der Aufklärung,

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