Leseprobe

10 Theodor W. Adorno (1903–1969), Philosoph und Sozio- loge, und der undogmatische wie begnadete Kulturkriti- ker Walter Benjamin (1892–1940), den nicht nur Freund- schaft und reger Briefwechsel, sondern auch so manches theoretische Denkbild mit Vorgenanntem verband. Lessing hatte in seiner Schrift zu Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) über die »ko- existierenden Kompositionen« in Literatur, Malerei und Skulptur nachgedacht, dank derer Handlung und Ge- schehen als Augenblick(e) abgebildet werden können. Unabdingbar sei daher, unter den künstlerisch darzu- stellenden Augenblicken die oder den »prägnantesten« zu wählen, woraus »das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird«. 4 Es ist der »fruchtbare Augen- blick«, den der Künstler bestimmt: »Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt.« 5 Aus dieser Perspektive heraus ergibt sich eine logische Verbindung zwischen der Entstehungszeit eines Kunstwerks und der im Werk selbst festgehaltenen Zeit, die im wahrgenommenen Augenblick sinnliche Präsenz erfährt. 6 Lessings Überlegungen zur adäquaten Darstel- lung des Augenblicks in den Bildkünsten gründen sich auf zwei unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen, die sich zum einen auf das bildnerische Werk selbst und zum anderen auf die fortlaufend vergehenden Zeit des Be- trachters und seiner Lebenswelt beziehen. 7 Adorno formulierte ebenso knapp wie allgemeingültig in seiner postum erschienen Ästhetischen Theorie (1970): »Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand, momentanes Innehalten [...], als der er sich dem beharrlichen Auge offenbart.« 8 Die hier ge- wählte Metapher des beharrlich blickenden Auges findet ihr Analogon in der geduldigen Kontemplation. 9 Darin ist der rigorose Philosoph Adorno mit Lessing sehr ver- wandt. Dieser war überzeugt: »Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.« 10 Adorno stand der Kommunikation zwischen Kunstwerk und Betrachter durchaus kritisch gegenüber, doch er wusste um die aktivierende Kraft, die der Kunstrezipient einzubringen vermag, denn »Kunst kann vom Angerührt- werden, dem Augenblick der Bezauberung […] nicht radikal getrennt werden: sonst verlöre sie sich ins Gleich- gültige.« 11 In seiner brillanten, weit vorausschauenden Studie zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar­ keit (1936) wählte Walter Benjamin eine andere kunst- theoretische Betrachtungsperspektive. Die Aura, also die Einzigartigkeit eines Kunstwerks, sei ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit, die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«. 12 Die Einmaligkeit des Originals am jeweiligen Ort schaffe daher zwangsläufig eine auratische Distanz, die durch den Betrachter als Rezipient unterschiedlich wahrgenommen und modifi- ziert werden kann. In jedem Fall macht dessen Fähigkeit zur Kontemplation – der Augenblick der Bezauberung im Sinne Adornos – das Kunstwerk erst zur Projektionsfläche für die eigene Wahrnehmung und Empfindung und das intellektuelle Vermögen. 13 Auratische Augenblicke ver- stand Benjamin als ›Zwiesprache‹ zwischen Betrachter und Werk. In diesem Zusammenhang gewinnt die »Aus- stellbarkeit«, wie es Benjamin beschreibt, einen beson- deren Stellenwert in der Rezeptionsgeschichte eines Kunstwerks. 14 Benjamin diagnostizierte zudem die neuen Möglichkeiten von Fotografie und Printmedien für die technische Reproduzierbarkeit bildkünstlerischer Werke und reflektierte mit einem Blick in die ältere Kunst­ geschichte, dass ein Werk grundsätzlich die Chance der Nachbildung, Nachahmung und der Reproduzierbarkeit in sich trage – durch Guss, Prägung, Abformung und gra­ fische Vervielfältigungstechniken. 15 Das digitale Zeitalter mit seiner schier unfassbaren Bil- derflut, seinen virtuellen Plattformen und Medien evo- ziert Flüchtigkeit ohne Dauer, doch nicht nur dies. Im übertragenen Sinne ist das Gemälde aus seinem Rahmen genommen, die Kleinplastik oder kostbare Pretiose hat die schützende Hülle der Vitrine längst verlassen. Die Originale führen eine mediale Existenz und Präsenz. Museal gespeiste Online Collections ermöglichen den Zugang zu einer unglaublichen Fülle an digital fotogra- fierter und fachgerecht kommentierter Kunst. Von die- sem Wissenstransfer profitiert nicht allein die For- schung, sondern natürlich auch der Kunstinteressierte.

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