Leseprobe

11 Für den Internetbenutzer genügen die richtige Such­ option und ein Mausklick, um weltweit durch berühmte Museen virtuell hindurch zu spazieren. Man kann den Louvre besuchen, ohne je dort gewesen zu sein. Das Lächeln der Mona Lisa von Leonardo da Vinci kann mit- tels der Zoom-Funktion auf Bildschirmgröße gebracht werden, sodass beinahe jeder Pinselstrich sichtbar wird und das menschliche Auge in ungeahnte mikroskopische Dimensionen vordringt. Zudem kann die geheimnisvolle Schöne im Café, auf der Bahnfahrt oder wo auch immer sich die Chance ergibt, so lange oder so kurz auf dem Bildschirm betrachtet werden, wie es angenehm und passend ist. Gemälde, Skulpturen oder etwa kleinforma- tige Werke barocker Schatzkunst können als monumen- tale Bilder auf Häuserfassaden projiziert, zu visuellen Ereignissen bei Nacht gemacht werden und in den öf- fentlichen Raum hineinwirken. Die Segnungen des digitalen Zeitalters haben dennoch nichts geändert an der auratischen Distanz zum Kunst- werk, die Walter Benjamin beschwört, denn diese existiert nur dort, wo Originale gezeigt werden, wo Raum ge- schaffen ist, sich dem beharrlichen Auge des Betrach- ters zu offenbaren, um nochmals zu Adorno zurückzu- kehren. Kleine Kabinettausstellungen wie die im Spon- sel-Raum des Neuen Grünen Gewölbes machen reizvolle Perspektiven sichtbar, die sich aus der Konzentration auf eine erlesene, thematisch gebundene Werkvielfalt erge- ben. Diese wiederum besteht durch ihre Einmaligkeit. Berücksichtigt man die unverwechselbare, sehr beson- dere Atmosphäre des Kunst-Seins im Raum, so kann der Betrachter auf Benjamins weise Voraussicht mit Gelassen- heit vertrauen. Denn um die »Aura einer Erscheinung« zu erfahren, wie er in seinem Charles Baudelaire gewidmeten Aufsatz von 1939 treffend beschrieben hat, ist es unab- dingbar, »den Blick aufzuschlagen«, der von dem erwidert wird, »dem er sich schenkt«. 16 Diese poetisch anmutende Formulierung meint »die Augenblicklichkeit des Werkes«, das nicht nur den Blick auf sich zieht, sondern, metapho- risch gemeint, selbst den Blick aufschlägt. Dieser radikale Standpunktwechsel des Blickes entzieht dem Betrachter Distanz, schafft Nähe und eine faszinierende, wenngleich imaginäre Lebendigkeit des Kunstwerks selbst. 17 Von Angesicht zu Angesicht tritt man – im besten Wort- sinn – dem Bildnis und/oder dem Porträt entgegen. Hier vermitteln sich Authentizität und Charakter über Phy- siognomie, Mimik und Gestik. »Gebieterisch und von herablassendem Stolz«, wie Hans-Ulrich Kessler es be- schreibt, »trifft uns der misstrauisch taxierende Blick« des Kurfürsten Johann Georg IV. von Sachsen. 18 Der große Barockbildhauer Balthasar Permoser monogram- mierte das nur knapp zehn Zentimeter hohe Elfenbein- relief mit dem Brustbild des Herrschers und schuf damit eines der eindrucksvollsten Porträts, die in der Klein- plastik überhaupt bekannt sind (Kat.-Nr. 7). Erst fast 20 Jahre später ist dieses Unikat, inbegriffen Permosers Signatur (!), in Böttgersteinzeug abgeformt worden. Das Formenverzeichnis der Porzellan-Manufaktur Meissen von 1711 erwähnt es unter Nummer 81. Permoser muss der Erfindung des Böttgersteinzeugs als innovatives Material plastischen Gestaltens offen, viel- leicht sogar erstaunt gegenübergestanden haben. Es scheint nahezu ausgeschlossen, dass er, der experimen- tierfreudig in unterschiedlichen Materialien und Forma- ten gearbeitet hat – von Sandstein über Marmor, Holz, Ton bis hin zu Elfenbein – nicht auch diese Erfindung ausprobiert hätte. 19 Ob Permoser das matt gehaltene Relief in Böttgersteinzeug als Abformung seines eige- nen Elfenbeinwerks selbst gesehen und begutachtet hat? Vermutlich nicht. Denn er hätte einige »verwischte Details« der Meissener Modelleure, worauf Anette Loesch verweist, wohl nicht akzeptiert (Kat.-Nr. 8). 20 Nunmehr treffen in der Ausstellung das Original und seine Abformung erstmals nach mehr als 300 Jahren wieder aufeinander. Diesem Augenblick möchte man wahrlich Dauer verleihen! Eine vergleichbar spektaku- läre Wiederbegegnung wurde bereits dem vom Original in Elfenbein (einer Arbeit des Francis van Boussuit) eben- falls 1711 abgeformten Böttgersteinzeugrelief Judith mit dem Haupt des Holofernes zuteil, das wiederum der Dresdner Hofbildhauer Paul Heermann für seine Elfen- beinversion sehr präzise als Vorlage nutzte. 21 Über Permosers Verhältnis zum Meissener Porzellan und zur nahe gelegenen Manufaktur gibt es keine verläss­ lichen Überlieferungen. Er arbeitete, anders als seine Bildhauerkollegen Benjamin Thomae oder Paul Heer-

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1