Leseprobe

25 Durch frühneuzeitliche Quellen wie die Reimchronik des Sonders­ häuser Kantors Joachim Manard (1593) 13 wurden »Ereignisse« wie die Präsenz Ludwigs III. auf dem Frauenberg und die Ungarnschlacht von 933 tradiert und im frühen 19. Jahrhundert durch das nun erwachende Interesse an einer deutschen »Altertumskunde« aufgegriffen. Erst in dieser Epoche sind auch zwei mit dem Frauenberg verbun­ dene, vom Geist der Romantik geprägte Sagen fassbar. Die Erzählung vom Schwan im Frauenberg 14 berichtet, dass sich im Berg ein See be­ fände, der von einem blauen Himmel mit Sternen überspannt werde. In diesem See schwimme seit Anbeginn der Welt ein weißer Schwan, der einen silbernen Ring im Schnabel trage und so das Gleichgewicht der Welt bewahre. Wenn er den Ring fallenlasse, würde die Welt un­ tergehen. Die Sage von Hildegard und Hellmund 15 hingegen bezieht sich auf die kultische und strategische Bedeutung des Berges im frühen Mittelalter. Hildegard, von dem in den Krieg ziehenden Hellmund ver­ lassen, wird Priesterin der Göttin Jecha. Als sie in dieser Funktion nach einer Schlacht den gefangenen Hellmund der Göttin opfern soll, ent­ rückt diese das Paar ins paradiesische Berginnere. Eine weniger wun­ dersame Version berichtet von der gemeinsamen Flucht des Paares. Zur Erforschung des Phänomens »Frauenberg« .  Forschungen des 19. Jahrhunderts und eine archäologische Ausgrabung zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben die teilweise Klärung des sich um den Frauenberg rankenden Gespinstes aus Sage und Geschichte bewirkt. Besiedelt wurde der Berg in der späten Bronze- und der vorrömi­ schen Eisenzeit, wobei auch die ersten der Wallanlagen entstanden, die das Plateau nach Westen als Abschnittswälle absicherten. 16 Eine 1817 auf dem Frauenberg durchgeführte Grabung, die keinen wissenschaftlichen Charakter, sondern eher den eines gesellschaftlichen Ereignisses hatte, erbrachte Skelette und Kleinfunde. 17 1873 finanzierte das Ministerium des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen eine Ausgrabung, bei der eine auf dem Plateau erkennbare Bodenerhö­ hung untersucht wurde, deren Beschaffenheit auf Reste von Bausub­ stanz schließen ließ. 18 Freigelegt wurde der Grundriss jener mittelal­ terlichen Kirche, die von Merians Kupferstich her bekannt war. Ober­ forstmeister Ernst Carl Adolph von Wolffersdorf leitete die Arbeiten; Baurat Carl Scheppig und Bauinspektor Bleichrodt nahmen Vermes­ sungen vor und zeichneten den Grabungsbefund. Eine 2007 bis 2010 vom Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie ausgeführte Grabung erbrachte u. a. die Erkenntnis, dass die 1873 freigelegte Kirche Vorgängerbauten hatte. 19 Nachgewie­ sen wurden drei aufeinanderfolgende Sakralbauten, deren ältester eine Totenkapelle war, die inmitten eines bis ins 7. Jahrhundert zu­ rückreichenden Friedhofes stand. Bisher wurden 90 Gräber unter­ sucht. Im 7. und 8. Jahrhundert war der Berg wohl Sitz einer fränki­ schen Adelsfamilie und gehörte »zu einem System von Befestigungen am Nordostrand des Ostfrankenreiches.« 20 Eine auf den Holzbau fol­ gende steinerne Saalkirche dürfte nach den mit ihr verbundenen Ke­ ramikfunden vom späten 8. bis ins 11. Jahrhundert existiert haben. Im 12. / 13. Jahrhundert entstand eine kreuzförmige Saalkirche mit Recht­ eckchor und Nebenapsiden, die mit der auf Merians Kupferstich wie­ dergegebenen identisch gewesen sein muss. Wie vielfältig die historischen Befunde auf dem Frauenberg sind und wie eine Epoche die andere dabei ablöst, ist auf dem nördlich des ehemaligen Standortes dieser Kirche gelegenen Terrain erkennbar. Hier bestand im 17. / 18. Jahrhundert eine merkwürdig anmutende An­ lage: Sternförmige Bodenerhöhungen verweisen auf eine modellhaft angelegte Festung, die vermutlich zu militärischen Übungen diente. 21 Fünf Wälle (Kurtinen) verbinden hohle Bastionen. Vor drei dieser Wälle wurden Außenwerke angeordnet. Am Südhang des Frauenberges befanden sich, anstelle des später hier existierenden Dorfes, vom 12. bis ins 16. Jahrhundert die Gebäude des Archidiakonats Jechaburg, 22 eines der vier übergeordneten kirchli­ chen Verwaltungsbezirke, in die Thüringen unterteilt war. 1506 unter­ standen diesem Archidiakonat mehr als 1 000 Kirchen in mehr als 400 Städten und Dörfern. Hervorgegangen war dieses Archidiakonat aus einem vermutlich 989 vom Mainzer Erzbischof Willigis I. gegrün­ deten Benediktinerkloster mit einer Kirche St. Petri. 1004 wurde dieses Kloster mit päpstlicher Einwilligung in ein Augustinerchorherrenstift umgewandelt. Als der Mainzer Erzbischofs Adalbert I. zu Beginn des 12. Jahrhunderts die kirchliche Verwaltung in Thüringen neu ordnete, wurde dieses Chorherrenstift zum Träger der Archidiakonatsverwal­ tung. 1105 ist erstmals ein Propst urkundlich zu belegen, 1133 das Archi­ diakonat als solches. Die im 14. Jahrhundert in Nachfolge eines älteren Gebäudes erbaute Kirche des Archidiakonats stand anstelle der heutigen Jechaburger Dorfkirche, war jedoch bedeutender als diese. Ihre Apsis zeichnet sich noch heute östlich der Dorfkirche als Bodenerhebung ab. Am 30. Febru­ ar 1525 wurden die Archidiakonatsgebäude von aufständischen Bauern geplündert. Nach Einführung der Reformation in der Sondershäuser Herrschaft (1541) verlor das Archidiakonat rasch an Bedeutung. 1552 wurde der erste evangelische Dechant eingesetzt. Die Säkularisierung der Güter folgte. Die Gebäude wurden nun auch als Steinbruch für den Bau von Häusern des Dorfes Jechaburg genutzt. Aber auch Material für Baumaßnahmen an fürstlichen Gebäuden in Sondershausen bezog man im Laufe der folgenden Jahrhunderte immer wieder von hier. Noch 1766 fanden Steine aus Jechaburg beim Bau des Westflügels des Schlosses Verwendung. 23 Da die Kirche des ehemaligen Archidiakonats verfiel, wurde – wie 1625 nachweisbar – der Gottesdienst auf dem Boden eines Schulge­ bäudes abgehalten. Zur Behebung dieses Provisoriums wurde 1639 an den noch erhaltenen Kirchturm ein kleiner Kirchenraum angebaut. Nachdem dieser 1725 durch Blitzschlag zerstört worden war, entstand 1726 bis 1731 die heutige Jechaburger Dorfkirche. Auf einen Umbau die­ ser Kirche von 1898 gehen u. a. ihr Dachturm mit Glockenstuhl, das weithin sichtbare Wahrzeichen der Kirche, und ein Neorenaissance­ portal zurück. 24 Das Jechaburger Archidiakonat hat einen Mann hervorgebracht, dessen kulturgeschichtliche Bedeutung die der zahlreichen Chorher­ ren, die hier gewirkt haben, weit übertrifft – den Chorherren Albrecht von Halberstadt (um 1200, Lebensdaten unbekannt), Verfasser der ersten Übertragung der »Metamorphosen« des Ovid ins Deutsche. 25 Nachdem Albrecht in den 1840er / 50er-Jahren ins Blickfeld der Ger­ manistik gerückt war, trug in den 1870er-Jahren auch der Sondershäu­ ser Gymnasialprofessor Thilo Irmisch, der als interdisziplinär wirkender Gelehrter weit über seine Region hinaus Ansehen genoss, zur Erfor­ schung des Themas bei. 26 Irmisch hat 1873 auch eine Gedenktafel für Albrecht von Halberstadt angeregt. 27 Fünfzig Jahre später, am 18. Mai 1923 wurde im östlichen Abschnitt der Nordfassade der Jechaburger Dorfkirche eine Sandsteintafel angebracht (Abb. 6). Deren Text, einge­ fasst in ein romanisierendes Dekor, würdigt den Dichter: »Dem ältes­ ten Dichter // des Wippertales, dem Chorherrn / / Albrecht von Halber­ stadt,/ / um 1200 Scholasticus // des Erzstiftes Jechaburg // zum Gedächt­ nis.« 28 Dieser Text verbindet die Würdigung von Albrechts Bedeutung für die deutsche Literatur des Hochmittelalters mit der heimatkundlich

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