Leseprobe
64 Ein spektakulärer Raum und seine »Wiederentdeckung« Der Schlossturm, um 1300 errichtet und um 1550 ins entstehende »Renaissance«-Schloss einbezogen, birgt historische Raumfassungen vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert, die für die siebenhundertjäh rige Bau- und Ausstattungsgeschichte des Schlosses von exemplari scher Bedeutung sind. Die Dekore der meisten dieser Raumfassungen sind durch mehr oder weniger umfangreiche Partien oder Relikte an Stuckaturen und z. T. auch an Malereien überliefert, wobei der Schwerpunkt auf in Stuck ausgeführten Deckendekoren liegt. Hier werden nicht die Gewölbe im Erdgeschoss oder die im 2. und 3. Obergeschoss gelegenen Räume – Decken mit Akanthusstuck der 1690er-Jahre und im Bandelwerkstuck der späten 1720er-Jahre 1 – be handelt, ebensowenig die in einem Raum des 2. Obergeschosses vor handene Holzbalkendecke des 16. Jahrhunderts oder die im 3. Oberge schoss erkennbaren Relikte der zwischen 1869 und 1893 nachweisbaren Nutzung durch die Prinzessin Elisabeth von Schwarzburg-Sondershausen. 2 Auch eine steinerne Wendeltreppe mit einem Eisengeländer, die 1869/70 nach Plänen des Wiener Architekten Franz von Naumann d. Ä. ausge führt wurde und im südwestlichen Eckbereich des Schlossturmes einen ehemals hier befindlichen Wendelstein (um 1550) ersetzte, findet nur Erwähnung. 3 Von Interesse ist hier vielmehr das im 1. Obergeschoss gelegene »Gewölbe am Wendelstein« 4 mit seiner fast komplett erhaltenen Stuckdekoration aus dem frühen 17. Jahrhundert, der aufgrund ihrer raumkünstlerischen Wertigkeit und der programmatischen Aussage ihres Dekors singuläre Bedeutung zukommt. Da die historische Funkti on und Bezeichnung dieses Raumes bisher nicht erschlossen werden konnte, wird er nach seiner Lage benannt. Ein ebenfalls im 1. Ober geschoss befindlicher Raum, in dem Hauptpartien einer zeitgleichen und stilistisch zugehörigen Stuckdekoration vorhanden sind, kann hier nur nebenher behandelt werden. Auch dieser Raum, ein vierjochiges Kreuzgratgewölbe auf einem Mittelpfeiler, wird nach seiner Lage – als »Gewölbe Nordwest« – bezeichnet. Es handelt sich um den bereits (in Kap. 3) im Zusammenhang mit Wandmalereibefunden des 16. Jahr hunderts (Paris-Urteil, Pyramus und Thisbe) gewürdigten Raum. 5 Die Einwölbung beider Räume erfolgte vor ihrer Stuckierung in der zwei ten Dekade des 17. Jahrhunderts. Die heutige innenarchitektonische Fassung dieser und weiterer Räume im 1. Obergeschoss des Schloss turms erklärt sich aus baulichen Veränderungen, die im Rahmen ei ner 1914/15 realisierten Baumaßnahme stattgefunden haben, dem hofseitigen Anbau einer zweigeschossigen Galerie an den Südflügel, Ostflügel- und Schlossturm, bei dem es zu baulichen Eingriffen in die davon betroffenen Räume kam. 6 Die o. g. historistische Steintreppe führt, wie zuvor der Wendelstein, im 1. Obergeschoss (Abb. 26) durch einen nach Norden gerichteten Zu gang in einen gewölbten Gang, der den Schlossturm von Westen nach Osten durchschneidet. 7 Von diesem Gang aus werden die nach Norden bzw. Süden gelegenen Räume dieser Etage erschlossen. Eine Zeichnung belegt den Zustand dieses Raumes, bevor er im Nachgang zum Galerie anbau 1918/19 teilweise umgebaut wurde (Abb. 27). 8 Beim westlichen Abschnitt der Nordwand dieses Ganges dürfte es sich um hochmittelal terliche Bausubstanz handeln. Die sonstige Raumgliederung dieser Etage geht – in Negation einer zuvor vorhandenen Anordnung 9 – im Wesentlichen auf die zweite Dekade des 17. Jahrhunderts zurück. Ver änderungen an der Raumdisposition, die im Nachgang zum Umbau von 1914 vorgenommen wurden, kommt nur sekundäre Bedeutung zu. Sie beziehen sich auf den östlichen Abschnitt des Ganges, der 1918/19 anstelle seiner Einwölbung eine Flachdecke erhielt und die ebenfalls mit Flachdecken ausgestatteten beiden Räume im nordöstlichen Bereich. Von Interesse ist hier der südliche Bereich dieser Etage, in dem sich das »Gewölbe am Wendelstein« befindet. Es fällt auf, dass das Ge wölbe des diese Etage durchschneidenden Ganges und seine Ausma lung aus dem 16. Jahrhundert zur Südwand hin abbrechen. Zu ver muten ist, dass dieser Gang ursprünglich Teil eines größeren Raumes war, der sich über den südlichen Abschnitt dieser Etage bis zum Schlosshof hin erstreckte. Die bestehende Unterteilung dieses ehemals größeren Raumes in den Gang und einen südlich davon gelegenen Raum, das »Gewölbe am Wendelstein«, muss in den Jahren unmit telbar vor 1616 erfolgt sein. 10 Dies ist aus der Stuckdekoration dieses Raumes zu erschließen, in die an entlegener Stelle die entstehungs zeiltiche Datierung »1616« (Abb. 28) eingearbeitet wurde. Vielleicht besteht ein Zusammenhang der Baumaßnahme, der das 1. Oberge schoss des Schlossturmes damals ausgesetzt war, mit dem Umbau eines Saales, für den 1610 der Baumeister Adam Müller aus Kassel nach Son dershausen beordert wurde. 11 Wahrscheinlicher ist jedoch, dass dem Coburger Baumeister Peter Sengelaub, der in diesen Jahren den Bau der Stadtkirche St. Trinitatis leitete, 12 parallel dazu im Schloss anste hende Umbauarbeiten übertragen wurden. Der nach Süden hin abgetrennte Raum wurde wie der Gang dieser Etage von Westen nach Osten – also längsrechteckig – orientiert. Er erhielt ein doppeltes Kreuzgratgewölbe, das als Untergrund für die hier eingebrachte Stuckdekoration diente. Am westlichen Ende der Nord Abb. 26 Schloss Sondershausen, Schlossturm, 1. Obergeschoss, Grundriss. 1 Wendelstein 2a Gang im Schlossturm (16. Jh., eingewölbt) 2b Gang im Schlossturm (Flachdecke von 1918/19) 3 Gewölbe am Wendelstein 4 Gewölbe Nordwest 5 Räume mit Flachdecken (1918/19) 6 Galerieanbau (1914) N r . 2" 1 2a 2b 4 3 5 6
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