Leseprobe

65 historische Funktion und deren Zusammenhang mit der Ikonographie des Dekors ungeklärt. Auch die Tatsache, dass eine sichere Identifizie­ rung des über dem Kamin stuckierten Herrenporträts mit hierfür infrage kommenden historischen Personen bisher kein Erfolg beschieden war, hat zu einer gewissen Mystifizierung des Raumes beigetragen. Dass sich die Ermittlung von Informationen zur Geschichte des Rau­ mes vor 1870 außergewöhnlich schwierig gestaltet, ist der Quellenlage und dem Charakter der überlieferten Quellen geschuldet. In den ältesten überlieferten Inventaren (1572, 1586) kann der Raum keine Erwähnung gefunden haben, da diese vor dem im 1. Obergeschoss des Schlosstur­ mes in den Jahren unmittelbar vor 1616 erfolgten Umbau, dem dieser Raum seine Entstehung verdankt, aufgenommen wurden. Zudem be­ zieht sich das 1572 nach dem Tod der Gräfin Elisabeth, der Witwe von Günther XL., entstandene Schlossinventar nur auf die von dieser Grä­ fin genutzten Räume, die sich zwar im Nordflügel und im Schlossturm, jedoch in weiter oben 13 gelegenen Etagen befunden haben dürften. Als 1586 Graf Johann Günther I. – derjenige unter den Söhnen von Günther XL. und Elisabeth, der in Sondershausen residierte – verstarb, wurde ein umfangreiches Gesamtinventar erstellt, in dem man jedoch bezüglich des 1. Obergeschosses im Schlossturm nur Räumlichkeiten finden könnte, die vor dem Umbau dieser Etage existiert haben. 14 Die auf Johann Günther I. folgende Generation ist durch Nachlass­ inventare von 1633, 1638 und 1643 vertreten, die nach dem Ableben der Grafen Johann Günther II., Anton Heinrich und Christian Günther auf­ genommen wurden. In den beiden erstgenannten Inventaren wurde nicht das Schloss insgesamt erfasst, da für die Inventarisierung nur diejenigen Räume, in denen sich den jeweiligen Grafen zugehöriges Inventar befand, von Interesse waren. 15 Demzufolge fehlt es diesen In­ ventaren an der wünschenswerten Systematik. Bei dem Inventar von Abb. 27 Gewölbter Gang im 1. Obergeschoss des Schlossturms, Zeichnung, 1882 (Schlossmuseum Sonders­ hausen, Z5). Abb. 28 Gewölbe am Wendelstein, Datierung »1616« im Stuckdekor. wand wurde ein Kamin angelegt. Neben diesem befindet sich der ursprünglich einzige Zugang zu diesem Raum – ein niedriger, von einem flachen Segmentbogen überspannter Durchgang zwischen diesem und dem nördlich angrenzenden Gang. Das Stuckdekor im Gewölbe und an den Wänden des Raumes wur­ de im Knorpelwerkstil gestaltet und gehört – weit über den Sonders­ häuser und Thüringen Horizont hinaus – zu den merkwürdigsten und faszinierendsten Raumfassungen seiner Epoche. Dieses Stuckdekor spiegelt in seiner stilistischen Tendenz und ikonographischen Spezifik nichts Mitteldeutsches oder Deutsches, sondern Elemente des interna- tionalen Manierismus dieser Epoche wider. Es genügt künstlerisch – das Wort »kunsthandwerklich« erscheint hier in weiten Partien unan­ gemessen – höchsten Anforderungen. Das ihm zugrundeliegende ikonographische Programm umfasst in systematischer Verteilung auf die Gewölbe- und Wandfelder 20 gerahmte allegorische Figuren bzw. Szenen und ein über dem Kamin angeordnetes Herrenporträt. Diese Hauptmotive geben die Tendenz des Programms vor und werden in den sie umgebenden Gewölbe- und Wandfeldern flächenfüllend von ebenso üppiger wie origineller Ornamentik umspielt. Bei näherer Be­ trachtung erweist sich diese Stuckdekoration als einzigartiges Ensemble aus ornament-, bild-, stil- und ideengeschichtlicher Substanz. Für die Forschung zu diesen Disziplinen und die Würdigung der künstlerischen Arbeit in Stuck ist sie von größtem Interesse. Dem »Gewölbe am Wendelstein« und seinem Stuckdekor haftet, so merkwürdig dies in einem wissenschaftlichen Kontext klingen mag – etwas »Geheimnisvolles« an, zumal sich das Dekor trotz der Zuschrei­ bung an bestimmte Stuckateure, der weitgehenden Entschlüsselung des ikonographischen Programms und fortschreitenden Erkundung seiner ikonologischen Botschaft in anderer Hinsicht einer definitiven Erschließung entzieht. Bei Durchsicht der älteren Schlossinventare konnte dieser Raum nicht identifiziert werden. Demzufolge sind seine

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