Leseprobe
57 CAROLIN OTT Der liegende weibliche Akt Ein auffällig beliebtes Motiv unter den Braunschweiger Werken aus Stein und seine möglichen Hintergründe Unter den BraunschweigerWerken aus Stein befinden sich auffäl- lig viele Darstellungen liegender weiblicher Akte. Neben neun rundplastischen Einzelfiguren nackter oder weitgehend entblöß- ter liegender Frauen unterschiedlichen Formats 1 ist das Motiv in zwei Reliefs und einer Figurengruppe anzutreffen. 2 Alle Arbeiten entstanden nach heutigem Kenntnisstand im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts, wobei ihre genaue Herkunft und ihre Entste- hungskontexte bis auf wenige Ausnahmen nicht dokumentiert sind. Im Fokus des folgenden Beitrags stehen die neun rundplas- tischen Einzelfiguren, die mehrheitlich aus Alabaster gearbeitet sind (Abb. 1, 5, 7, 9 – 11 und 15– 18). Darstellungen des nackten weiblichen Körpers gehören seit jeher zu den beliebtesten Motiven in der Kunst überhaupt, wes- halb ein darauf konzentriertes Sammlungsinteresse zunächst keiner weiteren Erklärung zu bedürfen scheint. Doch wie ist die Häufung ausgerechnet liegender Frauenakte in der Braunschwei- ger Sammlung zu bewerten? Korrespondiert sie mit der Situation in anderen Skulpturensammlungen fürstlichen Ursprungs inMit- teleuropa oder handelt es sich um eine Besonderheit der Braun- schweiger Sammlung und falls ja, wie ließe sich eine solche erklä- ren? Hierzu sollen zunächst Schlaglichter auf den Ursprung des Bildmotivs in der Antike und seine Erfolgsgeschichte in der Frü- hen Neuzeit geworfen werden, bevor die Skulpturen selbst ge nauer in den Blick genommen werden. Dabei stellen sich vor allem zwei Fragen: erstens, wie sie sich zum Bestand der anderen Sammlungsbereiche des Herzog Anton Ulrich-Museums verhal- ten, und zweitens, ob sie sich von zeitgenössischen Skulpturen liegender Frauenakte in anderen Sammlungen unterscheiden. Der liegende weibliche Akt – ein antikes Bildmotiv Der liegende weibliche Akt ist seit der Antike einwiederkehrendes Motiv nicht nur in der bildenden Kunst. Beschreibungen schlafen- der oder ruhender nackter Frauen finden sich bereits in der antiken Literatur. So wird beispielsweise die Königstochter Ariadne, die amStrand von Naxos schläft, als sie von ihremEhemann Theseus verlassen wird, bei Catull und Philostrat in ihrer Nacktheit beschrieben. 3 Dass Ariadne im Schlaf ihre körperlichen Reize preisgibt, hängt mit dem weiteren Verlauf der Erzählung zusam- men, in der Bacchus die schlafende Ariadne auffindet und beob- achtet, sich in sie verliebt und später zur Frau nimmt. Auch viele der anderen schlafenden oder ruhenden Frauenfiguren, die in antiken Texten nackt beschrieben werden, sind das Objekt des männlichen Blickes oder männlicher Begierde, weshalb das Motiv des liegenden weiblichen Aktes bereits in den damaligen Texten sinnlich-sexuell konnotiert ist. Ein zweiter literarischer Topos, der für den liegenden Frauenakt von Bedeutung ist, ist die Quelle als locus amoenus . 4 An diesem Ort der Ruhe und der Inspiration kön- nen sich ebenso wie die Quellnymphen auch der oder die Vorbei- kommende niederlassen, wie beispielsweise die Göttin Diana, die sich von der Jagd erholt. Im erhaltenen Bestand antiker Rund- und Reliefskulptur spiegelt sich der literarische Befund insofern wider, als viele der großformatigen liegenden Frauenakte Ariadne oder eine Nymphe repräsentieren. Interessant dabei ist, dass sich für die unterschied- lichen Figuren individuelle Typen ausbildeten, die sich durch besondere Körperhaltungen auszeichnen. So ist für den Ariadne-Typus, dessen bekanntestes Exemplar die »Ariadne vom Belve 1 * Für einen anregenden Gedankenaustausch und wertvolle Hinweise danke ich KerstinGrein, Anna Heinze undMarionHilliges. | Liegende Flora, Inv. Nr. Ste 9, Kat. Nr. 75; Liegende Flora, zu ihren Füßen Amor, Inv. Nr. Ste 59, Kat. Nr. 78; Liegende Diana, zu ihren Füßen ihr Hund, Inv. Nr. Ste 60, Kat. Nr. 79; Schlafende Diana, Inv. Nr. Ste 61, Kat. Nr. 80; Schlafende Dianamit einem Horn in der Rechten, Inv. Nr. Ste 64, Kat. Nr. 76; Liegende Kleopatra, von der Natter gebissen, Inv. Nr. Ste 67, Kat. Nr. 81; Ruhende Magdalena, Inv. Nr. Ste 69, Kat. Nr. 74; Schlafende Venus, Inv. Nr. Ste 159, Kat. Nr. 77; Lorenzo Matielli, Ruhende Diana, Inv. Nr. Ste 184, Kat. Nr. 85. | 2 Georg Schweigger, Cephalus und Procris, Inv. Nr. Ste 2, Kat. Nr. 93; Ruhende Venus mit Cupido, Inv. Nr. Ste 84, Kat. Nr. 94; Perseus und Medusa, Inv. Nr. Ste 14, Kat. Nr. 56. | 3 ZumMotiv des liegenden weiblichen Aktes in antiken Texten vgl. Heinze 2016, S. 17 – 19. | 4 Heinze 2016, S. 18. |
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