Leseprobe

92 92 Porträtbüsten und -bildnisse 1 Büste Herzog Anton Ulrichs zu Braunschweig und Lüneburg, Fürst von Braun- schweig-Wolfenbüttel (1633 – 1714) Balthasar Permoser (1651–1732), 1681/82 Inv. Nr. Ste 4 H 99,5 cm, B 58 cm, T. 37; H 76,5 cm o. Sockel Marmor, Marmorsockel Inventar H 18, S. 217, Nr. 7: Le buste d’Antoine Vlric Duc de Bronsvic, fait à Paris par Girardon. Marbre de Carrara. Inventar H 29, S. 95–96, Nr. 7: Büste Anton Ulrichs Herzog zu Braunschweig und Lüne- burg. Sie ist von Cararischen Marmor, etwas über Lebensgröße und von Girardon zu Paris verfertiget. Das rückseitig nicht ausgearbeitete und im Korpus hohle Marmorbildnis ist die erste von zwei Büsten des Herzogs, die Balthasar Permoser schuf (Kat. Nr. 2). Sie standen als Pendants in einer Folge von gemalten und skulptierten Porträts bedeutender Personen in der sogenannten Kleinen Galerie imSchloss Salzdahlum. 1 Außer Zustandsschilderungen des Schlosses aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, die auch Permoser als Urhe- ber angeben, existieren keinerlei Dokumente zur Entstehung, Autorschaft und Funktion, was zu zahlreichen Irrtümern in der Forschung geführt hat. Die bisher überwiegend geäußerte Vermutung, dasWerk sei anlässlich der Erhebung zumMit- regenten um oder kurz nach 1685 gefertigt worden, trifft nicht zu. Damals war es Brauch, sich als fürstlicher Machtinhaber im zeitge- nössischen Harnisch mit Halsberge darstellen zu lassen, wie es dann Anton Ulrich mit Über- nahme der Alleinherrschaft in der späteren Büste auch tat (die deshalb auf 1704/05 zu datieren ist). Die von Ludwig XIV. (1638–1715) als Ausdruck imperialen Machtanspruchs ver- wendete Einkleidung all’antica avancierte erst im 18. Jahrhundert zu allgemeiner Konvention. Sie zu wählen, um sich anlässlich der juristisch wie politisch nicht unumstrittenen Doppelre- gentschaft quasi als anderer Sonnenkönig zu inszenieren, hätte sich Anton Ulrich gar nicht erlauben können. Stattdessen entstand die Büste höchstwahrscheinlich nach seinem ers- ten Venedigaufenthalt 1681 als Kombination französischer und italienischer Typen von Herrscherbüsten des 17. Jahrhunderts. In dem jungen, damals ganz am Anfang seiner Laufbahn stehenden und damit sicher kosten- günstigen Permoser fand der Herzog einen kongenialen Künstler. Auffällig ist die fast zu einem Oval geschlossene Form in der fronta- len Hauptansicht, die einen im italienischen und französischen Hochbarock häufig ange- wandten Typus der Büste mit gerundetem un- teren Abschluss zu konzentrierter, das Haupt des Dargestellten akzentuierender Gestalt fügt. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Souveränität im Umgang mit konventionellen Mustern. Permoser greift sie auf für eine vir­ tuos dialektische Formensprache: Die von Gian Lorenzo Bernini (1598–1680) für die Büste von Francesco I. d’Este (1610–1658) erfun- dene radikale seitliche Wendung des Kopfes steht ganz in den Grenzen des Gesamtumris- ses, aber durchbricht ihn mit der Blicklenkung für die Betrachter, gesteigert noch durch die dynamische Asymmetrie der Lockenstränge der Allongeperücke. Auf der linken Körper- seite fallen sie in Gegenrichtung zum Kopf einwärts auf die Brust, rechts hingegen flie- ßen sie scheinbar auswärts führend auf die Schulter. Die Einkleidung in einen antiken Muskelpanzer, übernommen von den Dar­ stellungen Ludwigs XIV., ist sowohl durch die Haarpracht als auch den von der rechten Schulter über den Bauch geschlungenen und links unter dem Arm verknoteten Mantel stark zurückgenommen, zeigt sich jedoch gerade an dieser kritischen Stelle deutlicher durch die charakteristischen Lederriemen. Ein besonde- rer Kunstgriff ist das über den Panzer fallende Spitzenhemd, das wie eine Fortsetzung der Lockenpracht wirkt, aber den entblößten Hals betont und zugleich die antike Einkleidung als Kostümierung klarstellt. Die Schulung Permo- sers in Rom und in der Foggini-Werkstatt zeigt sich auch in der auf stoffliche Charakterisie- rung zielenden Oberflächenbearbeitung des Marmors: Zu den mit viel Einsatz des Bohrers erzeugten stumpfen Locken der künstlichen Haartracht kontrastieren das lappige Leder des Panzers, die textile Fältelung des Mantels, die à jour gebohrten Spitzen des Hemdes und die Inkarnat andeutende Politur des Gesich- tes. In der Seitenansicht entfaltet sich die Pro- grammatik der Büste vollends. Wie ein präch- tiger barocker Rahmen fassen die Perücken­ locken das Gesicht des Fürsten ein. Entgegen der natürlichen, in gemalten Porträts über­ lieferten langgezogenen schmalen Form des Kopfes und ausgesprochener Spitznasigkeit tritt uns ein ausgewogen proportioniertes Haupt gegenüber. Unter nur wenig geschwungener und dem tatsächlichen Alter des fast 50-Jähri- gen widersprechender faltenloser, durch her- überfallende Locken teilweise verdeckter Stirn sitzen strichdünne, apollinische und zum Aus- druck gespannter Aufmerksamkeit hochgezo-

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