Leseprobe
319 KERSTIN GREIN Historistische Bildungsziele und archäologische Experimente Die Gipsabguss-Sammlung des Herzog Anton Ulrich-Museums imWandel der Zeit Einführung Das Herzog Anton Ulrich-Museumverfügt als Universalmuseum über Sammlungen verschiedenster Art und Gattung. Von der Gemäldesammlung über das Kupferstichkabinett reicht der Be stand bis hin zu Skulpturen verschiedener Materialien und zur Angewandten Kunst, Abteilungen, die sowohl außereuropäische als auch europäische Kunstwerke miteinander vereinen. Dass das Museumetwa seit der Zeit, als der Neubau an der Museumstraße 1 bezogenwurde, nämlich den späten 1880er Jahren, auch über eine Sammlung von Gipsabgüssen verfügt, ist heute hingegen kaum bekannt. Diese Studie skizziert die Geschichte dieser Sammlung, die ein außergewöhnlich gutes Beispiel für den Wandel in der Wertschätzung von Gipsabgüssen seit der Gründerzeit und bis heute darstellt. Mit dem Ziel, »die schönsten und charakteristischsten Werke der Bildhauerkunst aller Zeiten inAbgüssen zu vereinen«, 1 begann Museumsdirektor Herman Riegel (1834– 1900) im Frühsommer 1888 mit der Anschaffung von Gipsabgüssen antiker, mittelalter- licher und neuzeitlicher Skulpturen. Diese erwarb er innerhalb der folgendenMonate bei Museen und Gießereien im In- und Aus- land. Dabei hatte der Direktor ein hohes Ziel vor Augen. Die Sammlung sollte nicht etwa nur der Lehre dienen, sondern vor allem eine »volksthümliche« sein, die überdies die Bestände des Herzoglichen Museums ergänzte und mehr noch vervollstän- digte. Zu Pfingsten 1889 war die Einrichtung dieser neuen Abtei- lung abgeschlossen. Etwas mehr als 450 Exponate verteilten sich auf insgesamt sechs Ausstellungssäle im Erdgeschoss des Neu- baus, dessenAusstellungsflächen damit zwei Jahre nach der Eröff- nung endlich vollständig bespielt und zugänglich waren. In den Folgejahren blieb diese Ausstellung in Struktur und Aufbau un angetastet; die Sammlung wurde kaum noch erweitert oder gar verändert. Zur Blüte brachte sie dann Riegels Amtsnachfolger. Als Paul Jonas Meier (1857 – 1946) 1901 Museumsdirektor wurde, rückte das Sammlungsgebiet der Gipsabgüsse in den Fokus der musealen Arbeit. Die Bestände wurden ergänzt, erweitert und grundlegend überarbeitet. In den Erdgeschossräumen entstand, wenn man so will, ein ganz eigenes, neues Skulpturenmuseum mit etwa 540 ausgestellten Abgüssen und Gruppen von Abgüssen (Abb. 1). Die Sammlung wurde von Meier intensiv gepflegt, bis schließlich, in den Jahren des Ersten Weltkriegs, das Interesse an den Abgüssen generell und letztlich auch in Braunschweig zu schwinden begann. Die etwa 265 noch erhaltenen Objekte aus dieser Sammlung sind heute fast ausnahmslos deponiert. Die Wertschätzung des 19. Jahrhunderts, die den Gipsabformungen in einem ganz didak- tischen Verständnis Eigenschaften und Fähigkeiten zusprach, die sie den Originalen geradezu ebenbürtig erscheinen ließen, ver- schwand mit dem Ende des Deutschen Kaiserreichs ebenso wie die Gipsabformungen selbst aus den Schauräumen der alten Museen. 2 So war es beispielsweise für August Fink (1890– 1963), der 1955 als Museumsdirektor einen Lagebericht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammenstellte, kaum mehr nachvoll- ziehbar, mit welchem Engagement sich seine Vorgänger, insbe- sondere Paul Jonas Meier, für die Sammlung eingesetzt hatten. 3 Die hiermit vorliegende Untersuchung der Sammlungsge- schichte, die ein Verzeichnis des historischen Bestands unter Berücksichtigung der umfangreichen Verluste einschließt, soll die Aufmerksamkeit wieder auf die Gipsabgüsse lenken und einen Ausgangspunkt schaffen für die weitere Auseinandersetzung mit dieser vielseitigen Sammlung. Sie skizziert die Ankaufsgeschichte, die Motivation für den Erwerb der Sammlung und den Umgang damit imLaufe der Zeit, schwerpunktmäßig amEnde des 19. Jahr- 1 HAUM, Altregistratur, Neu 77, Entscheidungsvorlage des Herzoglichen Staatsministeriums an die Landesversammlung, Anlage 30, Nr. 7618 de 1887, Herman Riegel, Denkschrift über die Anschaffung einer Sammlung von Gypsabgüssen für das Herzogliche Museum zu Braunschweig, S. 3 –7, hier S. 4; vgl. auch Riegel 1873, S. 47. – Diese allgemeine Zielsetzung war nicht ein- malig, z. B. sollte die neue Abguss-Sammlung im Neuen Museum in Berlin »das Erlesenste der ganzen Plastik aller Zeiten in sich vereinigen«, wie Alexan- der Conze 1880 schrieb; vgl. Fendt 2012, S. 214. | 2 Vgl. Ausst. Kat. Berlin 2015. | 3 Vgl. Fink 1955, S. 80– 84. | 1 Gipsabguss-Sammlung, Abgüsse nach Antiken, Raum 4 nach Westen, um 1905
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