Leseprobe
Die Gefangenen 62 Die 1950er und 1960er Jahre standen im Strafvollzug der DDR noch ganz im Zeichen der Nachkriegszeit. Das galt auch für die hohe Zahl von politischen Gefangenen, von denen anfangs ein Großteil zu den schon während der Be- satzungszeit von SMT Verurteilten zählten. Beinahe ein Drittel war nach sowjetischem Recht wegen des Vorwurfs der Beteiligung an NS-Verbrechen verurteilt. Die übrigen wurden wegen tatsächlicher oder vermeintlicher Aktivitä- ten gegen die sowjetische Besatzungsmacht verurteilt. Infolge mehrerer Amnestien wurden bis 1956 dennoch viele dieser Verurteilten freigelassen und zum Teil in den Westen abgeschoben. Die Haftgründe der von DDR-Gerichten verurteilten Ge- fangenen in Torgau reichten in den 1950er Jahren von »Boykotthetze«, »Spionage« (darunter viele Angehörige der schon vom NS-Regime verfolgten Glaubensgemein- schaft der Zeugen Jehovas) über »Wirtschaftsverbre- chen« bis hin zu Delikten der allgemeinen Kriminalität. In den Waldheimer Prozessen wurden 1950 über 3000 frühere Internierte der mittlerweile aufgelösten sowjeti- schen Speziallager in Schnellverfahren nach politischen Vorgaben verurteilt. Mehr als 200 Verurteilte gelangten zur Haftverbüßung nach Torgau. Im Umgang mit politi- schen Gefangenen, die als »Nazi- und Kriegsverbrecher«, Feinde der neuen Ordnung und »Agenten des Klassen- feinds« angesehen wurden, waren besondere Härte und Rohheit an der Tagesordnung. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wuchs die Zahl der Gefangenen, die von DDR-Gerichten verurteilt waren: Nach dem Mauerbau im August 1961 stieg die Zahl der Häft- linge, die von DDR-Gerichten wegen »Ungesetzlicher Ver- bindungsaufnahme« in denWesten, »Republikflucht« und ähnlicher Delikte verurteilt waren, immens. Dabei war der Anteil politischer Häftlinge in den 1960er Jahren am höchsten. Seit den 1970er Jahren veränderte sich die Ge- fangenenstruktur in Torgau und anderen Strafvollzugsan- stalten der DDR. Torgau entwickelte sich dabei zu einer Haftanstalt, in der überwiegend mehrfach Vorbestrafte einsaßen. Der Abschluss des Grundlagenvertrags mit der Bundesre- publik von 1972, die Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen 1973 und das internationale Helsinki-Abkommen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975 schufen für DDR-Bürger neue, formal zunächst legale Kontaktmöglich- keiten in Richtung Bundesrepublik. Dennoch blieb die in- nerdeutsche Grenze für die meisten unüberwindbar. Durch eine Fülle gesetzlicher Bestimmungen versuchte die SED-Führung, die eigene Bevölkerung von Informationen aus dem Westen abzuschirmen und Fluchten aus der DDR zu verhindern. Ebenso versuchten die Verantwortlichen, das seit Mitte der 1970er Jahre verstärkt auftretende Phä- nomen der Ausreiseantragsteller zurückzudrängen. Viele von ihnen nahmen eine Inhaftierung in Kauf, um als poli- tische Gefangene durch die Bundesrepublik freigekauft zu werden. Obwohl die DDR die Existenz politischer Gefangener auch in den 1970er und 1980er Jahren entschieden leugnete, wurden die politischen Delikte in den internen Berichten der Strafvollzugsverwaltung genau erfasst. Politische Ge- fangene wurden in den Anstalten oft in die härteste Voll- zugskategorie eingewiesen. Sie waren häufig Disziplinar- maßnamen unterworfen und in der Regel von den wenigen Vergünstigungen ausgeschlossen, die sich andere Häft- linge durch Arbeitsleistungen, Gehorsam oder Bespitze- lung ihrer Mitgefangenen verdienen konnten.
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