Leseprobe
63 Am 5. oder 6. März 1953 geschah plötzlich etwas Unerwartetes, ein zunächst für den Häftling nicht erklärbares Ereignis: die Arbeiten in allen Arbeits- kommandos wurden unterbrochen und alle Häft- linge mußten zurück in ihre Zellen. Weil niemand von uns wußte, welche Ursache zu dieser Maß- nahme geführt hatte, entstand Unruhe in den Zel- lenhäusern. Am späten Nachmittag wurden wir zellenweise von einem Wächter zu einem Friseur geführt, bei dem uns das Haupthaar geschoren wurde. Wir waren entsetzt und verunsichert über diese Erniedrigung. Einem von uns gelang es, von dem Friseur, der auch ein Häftling war, den Grund für diese Maßnahmen zu erfahren. Er raunte uns zu: Stalin ist tot. Offenbar fürchtete die Stasi die Erregung oder Aufstände bei den Häftlingen. Wir wußten ja auch nicht, ob Stalin eines natürlichen Todes gestorben war, oder ob es in der Sowjet- union einen Putsch oder Aufstand gegeben hatte. Wir politischen Häftlinge freuten uns riesig über den Tod des Diktators, und wir spekulierten heftig über die möglichen politischen Auswirkungen. [...] Wenige Monate später, am 17. Juni 1953, erlebten wir erneut einen absoluten Stillstand der Arbeit und einen sehr strengen Verschluß in den Zellen- häusern. Beklemmend und beängstigend war die absolute Stille, die Ruhe, nichts schien sich zu be- wegen, keine Geräusche drangen an unsere Ohren. Die politischen Häftlinge, die es ja in der DDR gar nicht gab, wurden isoliert im ersten Stockwerk des südlichen Flügels untergebracht. Da es in dem Stockwerk keine Holzblenden vor den hoch angebrachten Fenstern gab, hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit, vom oberen Stockwerk aus einen sehnsüchtigen Blick auf die entfernte Elbe zu werfen. Kurz nach der Verlegung in die Isolation wurden wir »Politischen« neu ein- gekleidet. Die neuen Uniformen, graue Drillichho- sen und -jacken, besaßen breite eingenähte knallrote Biesen entlang der Ärmel und Hosen- beine und zusätzlich noch einen roten Ring oben auf den Ärmeln. Mit dieser sehr auffälligen neuen »Generalsuniform«, wie wir sie nannten, konnte man uns schon aus großer Entfernung als beson- ders gefährliche Häftlinge erkennen. Von den Ereignissen des 17. Juni 1953 haben wir wegen unserer strengen Isolation erst nach eini- gen Tagen erfahren. Die sog. »Freigänge«, das war 20minütiges Marschieren in einer Kolonne auf dem Hof, waren zunächst völlig eingestellt worden. Bei diesem Marschieren konnte man sonst von den benachbarten Zelleninsassen Neu- igkeiten erfahren. [...] Auch von Torgau munkelte man, daß es bei den Soldaten der sog. »Kaser- nierten Volkspolizei«, die in benachbarten Kaser- nen streng und abgeschirmt in Bereitschaft ge- halten wurden, starke Unruhen gegeben hätte, woraus einige von uns folgerten und hofften, daß sie unsere Befreier werden könnten. Daraus wurde aber nichts, und wir warteten einige Wo- chen untätig auf Veränderungen, die dann auch tatsächlich kamen. Der Tod Stalins im März 1953 und der Volksauf- stand vom 17. Juni 1953 in der Strafvollzugsan- stalt Torgau. Bericht von Friedhelm Thiedig, No- vember 2002. LStU Sachsen-Anhalt Blick auf den Nordflügel der Haftanstalt. Heimliche Aufnahme, die ein Gefangener mit einer selbstgebauten Kamera 1967 machte. Ullstein Bildarchiv
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