Leseprobe

94 Farbe als Bedeutungsträger  ® V.1 Das Repertoire an farbigen Gestaltungsmöglichkeiten in der Gold­ schmiedekunst wurde mittels polychromer Teilfassungen fraglos erweitert, wobei sich die technische Realisierung nicht selbstver­ ständlich aus der handwerklichen Tradition ableiten lässt. So mag es nicht überraschen, dass sich in den Reglements der Nürnberger Goldschmiede der Frühen Neuzeit imGegensatz zur Emaillierung 1 keine Hinweise für die Ausführung solcher Farbfassungen finden lassen, obwohl offensichtlich gerade in der freien Reichsstadt als Goldschmiedezentrum in der zweiten Hälfte des 16. bis in das frühe 17. Jahrhundert hinein häufig von dieser Möglichkeit der farbigen Gestaltung Gebrauch gemacht wurde. Farbfassungen betrafen in der Regel nur einzelne Partien von Goldschmiedewerken, und die Motivwahl fand gezielt statt: Bevorzugt waren Themen aus der Botanik und aus der Tierkunde wie auch figürliche Darstellungen. Hinzu kamen zierende Ornamente, die man als »belebte« Motive – als florale Elemente, Früchte, Tiere oder auch als Figuren, Gesichter und Maskerons – in verschiedenen traditionellen Goldschmiede­ techniken herausarbeitete. Die Malschichten verdecken lokal die von den Goldschmieden differenziert gestaltete, oft vergoldete Silberoberfläche. Es kursierte lange Zeit der kunsthistorische Vor­ behalt, es handle sich um eine »Verzierungsweise, welche des Edel­ metalls nicht würdig ist«. 2 Offensichtlich ging es jedoch nicht um die Kostbarkeit des Trägers, sondern um die naturalistische Farb­ gebung der Motive auf goldenem Grund. Naheliegend erscheint daher die These, dass diese Präferenz in Verbindungmit einer in der Zeit der Renaissance aufkommenden neuen Betrachtungsweise und Bewertung der sinnlichwahrnehmbarenWelt gesehenwerden muss. Bevor sich gestalterische Leistungen derart umfänglich materia­ lisieren, gehen in aller Regel geistige Entwicklungen voraus. Die folgenden vier Beiträge versuchen je auf ihre Weise den Voraus­ setzungen und spezifischen Ausprägungen polychromer Teilfas­ sungen auf Goldschmiedekunst nachzuspüren. In diesem Zusam­ menhang werden eigentümliche Begriffe wie die eingangs zitierte »neue« oder auch »zweite Natur« beleuchtet. 3 Die Herausbildung einer neuen Philosophie aus dem humanisti­ schen Gedankengut des Trecento und Quattrocento prägte maß­ geblich die Kunsttheorie Oberitaliens. 4 Besonderen Einfluss auf das künstlerische Schaffen hatten die naturphilosophischen Vorstellun­ Rainer Richter »In Ihren Händen lebt verborgen die Idee einer neuen Natur«. Der geistesgeschichtliche Hintergrund V.1 gen Marsilio Ficinos als führender Kopf der 1462 gegründeten, so­ genannten platonischen Akademie in Florenz. Das sich neu definie­ rende Selbstverständnis der Künstler äußerte sich in der schnellen Abfolge des Entstehens von Traktaten, die einflussreiche Vertreter wie Cennino Cennini, Leon Battista Alberti, Leonardo da Vinci, Giorgio Vasari und Benvenuto Cellini verfassten. Nicht zuletzt über Albrecht Dürer und gleichgesinnte Künstler der Zeit ist die Aus­ strahlung der italienischen Renaissance auf die Goldschmiedekunst der nördlichen Länder nachzuzeichnen. Letzteres geschah nun mit Blick auf die spezifischen Ausformungen, welche sich besonders in Nürnberg an den sich bis aufs Äußerste verfeinerten Techniken des Naturabgusses und der Farbfassung ablesen lassen. Davon nicht zu trennen sind die gerade auch in den handwerklichen Künsten sich verstärkt ausbildendenmanieristischen Tendenzen, vor allem in der über Generationen einflussreich wirkenden Familie Jamnitzer. In diesemKreis entstanden oft Werke, die ganz bewusst mit der buch­ stäblich »verwirrenden« Vielfalt gegeneinander gesetzter kunst­ handwerklicher Techniken spielen. Schriftliche Belege für die ein­ fallsreich kombinierten Methoden der Farbgestaltung in ihrem ar­ beitsteiligen und gewerkübergreifenden Prozess finden sich etwa in einem hier bereits öfter zitierten anonymen Manuskript der Gold­ schmiedekunst des ausgehenden 16. Jahrhunderts. 5 AmBeispiel Dresden lässt sich zeigen, dass die Tradition polychro­ mer Goldschmiedewerke auch im 18. und 19. Jahrhundert fortbe­ steht, wenngleich diese nun einer anderen Motivation entspringen. 1  Vgl. Jegel 1965, S. 37, 49f.   2  Lessing 1892, S. 19. Vgl. Kap. I.4.   3  Das Zitat in der Kapitelüberschrift entstammt einemSchreiben Pietro Aretinos anMichelangelo vom 16.9.1537. Der Originaltext und die deutsche Übersetzung sind wieder­ gegeben bei Blum 2014, S. 311: »[...] ne le man vostre vive occulta l’idea d’una nuova natura.«   4  Vgl. einleitend hierzu Zintzen 2000 und Zintzen 2009.   5  Vgl. Anm. 8, S. 21.

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