Leseprobe

V Farbe als Bedeutungsträger  ® V.2 95 V.2 Das Menschenbild und das Bild des Menschen von seiner Welt er­ fuhren in Oberitalien mit dem Beginn der Renaissance entschei­ dende Veränderungen. Die Neuentdeckung und Übersetzung um­ fangreicher Literatur aus dem Lateinischen und aus dem Griechi­ schen vermittelte auf direkte und tiefgreifende Weise den reichen Stromdes antiken Vermächtnisses. 1 Der damit bewirkteWandel des Weltbildes dürfte für Künstler hinsichtlich ihrer Selbsteinschätzung und in der Wahl ihrer Themenschwerpunkte in dreierlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung gewesen sein: 2 1. Entgegen dem heils- und jenseitsorientierten Denken der Scho­ lastik betrachtet der humanistisch gebildete Mensch mittels seiner vernunftbegabten Seele den Kosmos, in demer eingebettet ist, aus einer erhöhten Mittelposition, die ihn gleichermaßen an der sinnlichen und geistigen Welt teilhaben lässt. 2. In der Aufwertung des irdischen Daseins erlangt der Mensch nun eine positiv konnotierte Sicht auf die materiellen Dinge und die diesseitige Schöpfung. 3. Mit der stärkeren Individualisierung des Menschen nimmt er die Welt immermehr in einemselbstreflektierenden Prozess wahr. Die künstlerischeWahrnehmung erschließt sich neue Bereiche, indem einerseits perspektivische Verfahren und optische Abbildungssys­ teme eingesetzt werden. Andererseits spielen auch irreale Darstel­ lungen, die aus Traumbildern, Vexierspielen und aus dem Bereich der Fantastik (z. B. Grotesken) gespeist werden, eine wichtige Rolle. Zunächst führte die bewusste Wahrnehmung der Schönheit der diesseitigen Welt in der Kunst zwangsläufig zu einem wachsenden Interesse an der naturalistischen Wiedergabe von Motiven, das an die Stelle der farbsymbolischen Deutungen des Mittelalters trat. Als Protagonist dieser positivistischen Gedankenwelt gilt im 14. Jahr­ hundert Petrarca, der sich in seiner Poetik bevorzugt auf römische Autoren wie Cicero, Vergil und Ovid bezieht. 3 Seine Auswahl ist keineswegs zufällig, denn deren literarisches Schaffen rezipierte wiederum besonders jenes neuplatonische Gedankengut, welches die Philosophen des Quattrocento durch direktes Studium in das christliche Weltbild integrieren sollten. Das menschliche Indivi­ duum wird dabei ins Zentrum der Betrachtung gerückt, und die Schönheit der Natur erlangt eine höhere Wertschätzung. Die Ver­ mittlung dieser neuplatonischmotivierten Vorstellung erreichtemit dem Florentiner Philosophen Marsilio Ficino im 15. Jahrhundert einen Höhepunkt. 4 Die wirkungsvolle Rezeption dieser naturphi­ losophischen Gedanken soll mithilfe des seit der Antike bestehen­ den Denkmodells der Stufenleiter allen Seins bzw. aller Geschöpfe nachfolgend veranschaulicht werden. 5 Seit der Antike hat sich der Mensch den Kosmos als ein geordne­ tes, zahlenmäßig erfassbares Weltsystem mit hierarchischer Struk­ tur vorgestellt. 6 Dabei bedeutet der aus demGriechischen abgeleitete Begriff Hierarchie »heilige Ordnung« 7 und verweist somit auf seinen göttlichen Ursprung. An der Spitze steht Gott, dessen Urbild sich durch Emanation bzw. durch den Schöpfungsakt in den unteren Hierarchieebenen abbildet. Die im göttlichen Schöpfungsplan ent­ haltene Idee wird bei fortschreitender Entfaltung derWelt immerfort von einer Stufe in die nächste Stufe gespiegelt und verbindet alle Seinsebenen in analoger Weise. Der Mensch als einziges vernunft­ begabtes Lebewesen kann dabei an der unteren materiellen wie an der oberen nur geistig erfassbaren Welt teilhaben. Daher bleibt es ihmvorbehalten, sichmittels seines Intellekts bis zur höchsten gött­ lichen Ebene emporzuarbeiten und damit die Sinnhaftigkeit und die Regeln des verborgenen Weltaufbaus zu enträtseln. In einem frühen Druckwerk von 1512 findet sich die Abbildung einer solchen Stufenleiter der Geschöpfe als »scala intellectus« (Abb. 1). Der Holzschnitt nimmt Bezug auf das 1305 von Raimundus Lullus verfasste Opus »Liber de ascensu et descensu intellectus«. Dabei handelt es sich um eine stark verknappte Darstellung des ge­ danklichen Weges, der von der untersten Seinsstufe der unbelebten Natur bis zur göttlichenWeisheit reicht. In aufsteigender Reihenfolge werden dazu die Seinsstufen benannt: lapis, flamma, planta, brutus, homo, caelum, angelus undDeus. Zudemsind die jeweils höchstran­ gigen Vertreter einer Seinsstufe illustriert. So befinden sich etwa die als »lapis« aufgeführten Edelsteine an oberster Stelle des unbelebten Bereichs der Gesteine und Metalle oder der Löwe als mächtigster Repräsentant innerhalb des Tierreichs. Unterhalb der lebenden Ge­ schöpfe steht das Feuer für die vier Elemente nach Aristoteles, die nicht zuletzt auf die Veränderlichkeit allen körperlichenDaseins hin­ deuten. Der Mensch ist in der eingangs genannten privilegiertenMit­ telstellung zwischen sichtbarer und geistigerWelt dargestellt. 8 Mit der in beiden Richtungen gedanklich »begehbaren« Stufenleiter des Seins Rainer Richter Einfluss der Naturphilosophie auf das Selbstverständnis der Renaissancekünstler

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