Leseprobe

96 entstand ein dynamisches System, welches die Philosophie Platons und seiner Frage nach demUrsprung allen Seinsmit denAusführun­ gen von Aristoteles zur Erklärung der physischen Wirklichkeit in seiner Ausformung, Konstitution und Wandelbarkeit kombiniert. 9 Marsilio Ficino erschloss der gebildeten Leserschicht der Renais­ sance dieses philosophische Gedankengebäude durch Übersetzun­ gen und Veröffentlichung der griechischen Quellschriften. 10 Sein Hauptwerk »Theologia Platonica« aus dem Jahr 1482 enthält die wesentlichen Merkmale der (neu-)platonischen Philosophie. Die menschliche Individualseele war hierbei in ihrer Bewegung viel we­ niger auf das himmlische Jerusalem und ihren Heilsweg ausgerich­ tet als auf ihre zentrale Stellung auf der Stufenleiter der Geschöpfe. 11 Den Künstlern kommt nach Ficinos Vorstellung eine Schlüsselrolle zu, da gerade sie ihr geistiges Vermögen nutzen sollten, umWerk­ stoffen imZuge ihrer schöpferischen Umformung einen lebendigen Ausdruck zu verleihen. Feuer, Wasser und den anderen Elementen kommt, wie oben erwähnt, bei der Umwandlung von Materie laut Ficino eine große Bedeutung zu: »Mit seinen himmlischen Fähigkei­ ten steigt der Mensch zum Himmel auf, er durchmisst ihn. Mit seinem überhimmlischen Geist überschreitet er den sichtbaren Kosmos […]. Stellvertreter Gottes ist, wer alle Elemente beherrscht und kultiviert, der Mensch, gegenwärtig auf Erden ist nicht entfernt dem Himmel.« 12 Das dritte Kapitel im 13. Buch der »Theologia Platonica« widmet Ficino explizit der Analogie von göttlichem Schöpfungsvorgang und menschlicher Kunstfertigkeit. Es handelt sich dabei nicht nur um eine einfache Analogie zwischen den beiden ins Verhältnis ge­ setzten Begriffspaaren »Deus–natura« und »artifex–ars«. Die Kunst­ fertigkeit äußert sich vielmehr in einem zweistufigen Prozess: Ge­ stützt auf seine Geistesverwandtschaft mit Gott hat der schaffende Abb. 1 Stufenleiter der Geschöpfe als »scala intellectus« Holzschnitt, in: Raimundus Lullus, De ascensu et descensu intellectus, Valencia 1512, Göttingen, Nieder- sächsische Staats- und Universitäts- bibliothek, Sign. 8 PHIL II, 73, S. 57

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