Leseprobe

V Farbe als Bedeutungsträger  ® V.2 97 Künstler den Schöpfergedanken zunächst zu erkennen. Erst im zweiten Schritt materialisiert er die göttlichen Ideen, wobei ihmzur Herstellung alle nachrangigen Seinsformen innerhalb der Stufenlei­ ter zur Verfügung stehen. Dazu bedient sich der künstlerisch tätige Mensch aller ihm verfügbaren Ressourcen und Kräfte in der Natur: »In ihren Kunstwerken lässt sich erkennen, in welcher Weise der Mensch alle Materie in der Welt in seinen Dienst nimmt, als sei sie ihmunterstellt. Er bringt die Elemente, Steine, Metalle und die Vege­ tation und die Tiere zumEinsatz und überführt sie in viele Gestalten und Formen […]. Er beschränkt sich weder auf ein Element noch auf ein Tier, sondern nutzt alle, als sei er gewissermaßen Herr über Alles.« 13 Ob Ficino beimVerfassen dieses Textes spätmittelalterliche Goldschmiedekunst – etwa aus kombinierten organisch-anorgani­ schen Materialien – vor Augen hatte, wissen wir nicht. In gewisser Weise nimmt seine Formulierung aber die Idee der Kunstkammer­ objekte des 16. Jahrhunderts vorweg, mit der eine Synthese aus Natur und Kunst geschaffen werden sollte. Eine weitere Aussage Ficinos erlangte in späteren kunsttheoreti­ schen Abhandlungen, wie in Vasaris 1550/1568 entstandenen Viten, zentrale Bedeutung: »Zudem gibt der Mensch die ganze göttliche Natur wieder und vollendet, korrigiert und verbessert die niedere Natur.« 14 Mit »naturae imitatur« ist zunächst nicht etwa eine Nach­ ahmung nach dem Modell der Natur gemeint, sondern die Erfas­ sung des Wesenhaften, die Wiedergabe der göttlichen Idee. 15 Das menschliche Erkenntnisvermögen gründet sich dabei auf alleWahr­ nehmungspotenziale, die weit über das Sinnliche hinaus in die Be­ reiche der Vorstellung, Erinnerung, der Träume oder auch der Fan­ tasie reichen. 16 Eben dieser Erkenntnisprozess erlaubt es dem Künstler, »Verbesserungen« bei der Darstellung der sinnlichenNatur vorzunehmen, da ihr in der Hierarchie der »scala naturae« eine we­ niger vollkommen ausgebildete Seinsformzugewiesenwird. Dieser Gedankengang wäre imWeltbild des Mittelalters eine »ungeheuer­ licheBehauptung« 17 gewesen. Aus demBlickwinkel derRenaissance-Philosophie sind hingegen alle Spielarten der Erkenntnis auf geistiger wie auf materieller Ebene erlaubt. Das nunmehr dynamisch gedachte System der Stufenleiter der Geschöpfe hebt erstmals auch für die bildende Kunst die von Platon definierte bipolare Vorstellung einer erhabenen göttlichen und einer niederen sinnlichen Welt auf. Der Mensch in der Renaissance nimmt eine zentrale Stellung im Welt­ gefüge ein, in das er als frei denkendes Individuum gestalterisch eingreifen soll. 18 Ganz neuartige Methoden zur Erfassung der sichtbaren Welt standen ab dem 15. und vor allem ab dem 16. Jahrhundert mit den Entwicklungen auf den Gebieten der Messtechnik, der Optik und den experimentellen Naturwissenschaften zur Verfügung. Insbe­ sondere die Einführung von Proportionslehre und perspektivischen Konstruktionen schuf Grundlagen für eine in Zahlen exakt nach­ vollziehbare und damit reproduzierbare Darstellung. Damit eröff­ neten sich viele Möglichkeiten, die Natur in einer der Seherfahrung entsprechenden Weise nachzuahmen. Als früher Vertreter dieser Richtung gilt der Schriftsteller, Mathematiker, Kunst- und Architek­ turtheoretiker Leon Battista Alberti, der sich im 15. Jahrhundert mit Messinstrumenten, Proportionen und perspektivischen Konstruk­ tionen beschäftigte. 19 Auch die Erfindungsgabe von Leonardo da Vinci beförderte die Entwicklung von Perspektivinstrumenten, die im nordalpinen Raum seit dem frühen 16. Jahrhundert über Albrecht Dürer alsbald auch in den Nürnberger Goldschmiede­ werkstätten, insbesondere der Familie Jamnitzer, bekannt wurden. 20 Bereits Leonardo hatte die natürlichen Sehgewohnheiten, wie sie die Zentralperspektive wiederzugeben vermochte, weiter auf die Probe gestellt: Perspektivische Konstruktionen erlaubten ungewohnte Blickwinkel, optische Verzerrungen, Projektionen und Anamor­ phosen. Die unter demdamals gebräuchlichen Begriff der Katoptric ausgeloteten optischen Systeme führten zu scheinbar irrealen Dar­ stellungen, deren Entschlüsselung allerdings der Kenntnis des vom Künstler verwendeten »Codes« bedurfte. Somit wurden letztendlich auch die »wahren« und »unfehlbaren« Reproduktionsverfahren von den Künstlern dafür genutzt, mit immer neuen Bilderfindungen aufzuwarten, welche die Individualität ihres Schöpfers betonten. Die naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Grund­ lagen beeinflusstenmaßgeblich das Kunstschaffen der Renaissance. Die in der manieristischen Spätphase oft übertrieben, täuschend oder auch widersprüchlich gestalteten Kunstwerke sind letztlich Spielarten eines imVordergrund stehenden individuellen Schöpfer­ geistes. 21 Das Streben des Künstlers zielte darauf, »mitten in der Natur gewissermaßen eine zweite Natur zu schaffen«. Mit diesem Zitat aus Ciceros »De natura Deorum« dürften gebildete Humanis­ ten weitläufig vertraut gewesen sein. 22 1  Die rasche Ausbreitung humanistischen Gedankenguts wurde dabei durch günstige Begleitumstände, wie die Einführung des Buchdrucks, die vielerorts sich etablierende universitäre Bildung, prosperierende wirtschaftspolitische Entwicklungen und Mäzenatentum befördert; vgl. Zintzen 2000, S. 227–237. 2  Vgl. Zintzen 2009, S. 11–27.   3  Vgl. Zintzen 2000, S. 361f.; Zintzen 2009, S. 27–30.   4  Unter Anwendung seiner herausragenden Sprachkenntnisse gründete Ficino, dabei maßgeblich unterstützt von denMedici, sein literarisches Schaffen auf ein umfangreiches Studiumantiker Schriften, insbesondere der meist eigen- händig übersetzten Werke griechischer Philosophie. Wichtige Vorläufer seines anthropologischen Ansatzes sind Francesco Petrarca, Lorenzo Valla, Antonio da Barga, Bartolomeo Facio und v.a. Giannozzo Manetti; vgl. Zintzen 2000, S. 22f.; Wolf 2009, S. 12f.   5  Vgl. Pring-Mill 2001, S. 31.   6  Vgl. ebd., S. 64f.   7  Vgl. die Ter- minologie des griechischen Kirchenvaters Dionysius Areopagita in seiner ein- flussreichen Schrift »Über die himmlische Hierarchie«, zitiert nach Heil 1986, S. 36, 77f.   8  Die Vorstellung dieser bevorzugten Position entstammt der neu- platonischen Lehre, insbesondere der von Plotin, welche als Synthese griechi- scher Philosophie und Theologie die christlichen Vorstellungen weitreichend beeinflussen sollte.   9  Vgl. Pring-Mill 2001, S. 30; Song 2009, S. 52; Schmidt-Big- gemann 1983, S. 156–159; Leinkauf 1993, S. 150–160.   10  Bspw. erschien Ficinos Übersetzung der Enneaden von Plotin 1492.   11  Vgl. Zintzen 2000, S. 325, 475. 12  »Caelesti virtute ascendit caelum atque metitur. Supercaelesti mente tran- scendit caelum. [...] Vicem gerit Dei, qui omnia elementa habitat, colitque omnia, et (homo) terrae praesens, non abest ab aethere«, zitiert nach Zintzen 2009, S. 46, 52f.   13  Ficino, Theologia Platonica, 13,3: »In iis artificiis animadver- tere licet, quemadmodum homo et omnes et undique tractat mundi materias, quasi homini omnes subiiciantur. Tractat inquam elementa, lapides, metalla et plantas et animalia et in multas traducit formas atque figuras; [...] Neque uno est elemento contentus aut quibusdam ut bruta, sed utitur omnibus, quasi sit omnium dominus«, zitiert nach Zintzen 2000, S. 349. Daran anlehnend sowie an Wolf 2009, S. 63, erfolgte die deutsche Übersetzung durch den Autor. 14  »Denique homo omnia divinae naturae opera imitatur et naturae inferioris opera perficit, corrigit et emendat«, zitiert nach Zintzen 2009, S. 51, mit teilwei- ser Übernahme der deutschen Übersetzung durch den Autor.   15  Zintzen 2003, S. 8, sowie grundlegende Klärung des Begriffs der Nachahmung bei Petersen 2000.   16  Es bestehen wesentliche Einflüsse der neuplatonischen Philosophie; vgl. Song 2009, S. 55–60.   17  Zintzen 2009, S. 36f.   18  Vgl. Zintzen 2000, S. 472 – 476.   19  Vgl. Bätschmann/Schäublin 2000, bes. S. 36–72.   20  Vgl. Nürnberg 1998, S. 68–75.   21  Vgl. Arasse/Tönnesmann 1997, S. 450–452.   22  Cicero, De natura Deorum, Libr. II, 60, 152: »[...] in rerum natura quasi alteram naturam efficere«, zitiert nach Gigon/Straume-Zimmermann 1996, S. 214f.

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