Leseprobe

51 Neubeginn Unmittelbar nach einem Besuch führender Architekten und Politiker der DDR in der Sowjet­ union fasste die Regierung im Juli 1950 den Beschluss über »16 Grundsätze des Städte- baus«, die die baupolitische und ästhetische Doktrin der folgenden Jahre bildeten. Im Gegensatz zu den »aufgelockerten«, »autogerechten« Stadt- und Aufbaukonzepten in der Bundesrepublik sollte das Ziel des Städtebaus in der traditionellen, von großer Hand kom- ponierten und auf das Zentrum orientierten Stadt bestehen. Im Zentrum – so hieß es – befänden sich die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten, die monumentalsten Gebäude, seine Bebauung bestimme die Silhouette der Stadt. Der 14. Grundsatz des Städtebaus forderte, dass die künftige Architektur in der DDR der Form nach »national« und in ihrem Inhalt »demokratisch« sein müsse. Der von den Archi- tekten verlangte Bezug auf die deutsche Bautradition richtete sich vor allem gegen die internationale Moderne in Westeuropa und den USA, die nach der NS-Diktatur das Leitbild für den Wiederaufbau in der Bundesrepublik bildete. Die SED-Führung deklarierte den Rückgriff auf das historische Erbe als Beitrag für die Erhaltung der kulturellen Einheit Deutschlands. Sie forderte eine spezielle Form des Historismus, die von Ort zu Ort eine unterschiedliche stilistische Färbung annahm. Die ab 1953 nach dem Muster der Berliner Stalinallee errichtete Wohnbebauung am Roßplatz mit dem neobarocken Fassadendekor war der erste Abschnitt beim Ausbau des Promenadenringes nach den Prämissen der »16 Grundsätze des Städtebaus«. Trotz offizieller Distanz zur Politik und Kultur des Deutschen Kaiserreiches und der auch unter Architekten verbreiteten Ablehnung des Historismus wurden seine baulichen Leis- tungen bis etwa 1960 in Leipzig sehr geschätzt. Nach Kriegsende sind zahlreiche beschä- digte Gebäude aus dem Kaiserreich mit Sorgfalt in den gestalterischen Details wieder auf- gebaut worden und bildeten den Maßstab für die Neubebauung des Promenadenrings.

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