Leseprobe
83 Die Abkehr vom Konzept der Nationalen Bautraditionen und die »nachgeholte Moderne« (Thomas Topfstedt) ab 1960 bedeuteten nicht, dass sich nun die Stadtbilder in Ost und West anglichen, wenn auch zunehmend Bauformen aus Westeuropa durchsickerten. Der hohe Anteil von Wohnungen bei allen innerstädtischen Projekten, die Bedeutung von Kultur- und Bildungsbauten und ein verschwenderischer Umgang mit städtischem Raum, ermöglicht durch die staatliche Verfügbarkeit, sind Eigenarten der DDR-Moderne. Industrialisierung und Typenprojektierung förderten den Einsatz unterschiedlicher Monta- gekonstruktionen und brachten die für die DDR-Architektur charakteristische, bisweilen sperrige Ästhetik des Montagebaus hervor. Während die Ensembles im Stadtzentrum mit einem hohen Anteil individueller Projekte und Sonderbauten ausgeführt wurden, entstan- den in den Stadtbezirken Wohnkomplexe mit begrenztem Sortiment an Typenprojekten. Der schnelle Wandel von den Nationalen Bautraditionen zum industriellen Bauen wurde durch einen Generationenwechsel begünstigt. Die Architekten der Nationalen Bautraditio- nen – Heinz Auspurg (1912–2001), Walter Lucas, Rudolf Rohrer (1900–1968), Eberhard Werner u. a. – waren um 1900 geboren und durch Ausbildung oder Berufsweg mit traditio- nellen Bauformen vertraut. Ab 1960 besetzte eine jüngere, um 1930 geborene Generation wichtige Positionen: Horst Krantz, Wolfgang Müller (1932–1992), Horst Siegel, Rudolf Skoda (1931–2015), Johannes Schulze u. a. Sie hatten in den fünfziger Jahren studiert, die Entwicklung außerhalb der DDR beobachten und wichtige Bauten noch durch eigene Anschauung kennenlernen können. Die Einführung der Typenprojektierung und industrieller Baumethoden provozierte die Frage nach dem künstlerischen Charakter der Architektur. Während Hermann Henselmann (1905–1995) als Projektant spektakulärer Sonderbauten eine »industrielle Baukunst« er wartete, sahen Hanns Hopp und andere Architekten das Künstlerische in der Raumbil- dung und Stadtkomposition, nicht mehr im einzelnen Haus. Für marxistische Architektur theoretiker wie Lothar Kühne (1931–1985) oder Bruno Flierl war die Architektur dagegen keine Gattung der Kunst, sondern die räumliche Organisation des gesellschaftlichen Lebens und spiegelte sehr genau den jeweiligen Entwicklungsstand einer Gesellschaft wider.
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