Leseprobe
31 Wenn man Schillings Daten folgt, dauerte es nur kurze Zeit, bis sich aus der Beschäf- tigung mit rein künstlerischen Fragen eine weitere Perspektive ergab: »Den 3. Okto- ber 1917 [...] Empörung schafft geistige Kämpfer, die die Mittel der Ungeistigen verschmähen und den Protest nur als seelische Angelegenheit ausgesprochen haben wollen. Empörung schafft anderen den Willen, mit den Waffen der Gegner der Schande ein Ende zu setzen, das Geistige wird erst bestehen, wenn die Schuld getilgt ist« 15 , schrieb Schilling. Bereits hier wurde der Dissens darüber festgestellt, ob allein die Kunst zu revolutionieren sei oder ob man mit deren Hilfe Kritik an der Gesell- schaft üben und bestehende Verhältnisse ändern wollte. In Schillings Bericht steht die Gründung der Expressionistischen Arbeitsgemein- schaft im Zusammenhang mit den Aktivitäten dieses Kreises: »Den 2. Oktober 1917. DER ZWEITE EXPRESSIONISTISCHE ABEND brachte nach Verlesung des Protokolls Klärung wesentlicher Fragen und deren endgiltige [sic] Formulierung als Programm. Expressionistische Arbeitsgemeinschaft Dresden. Recha Rothschild, Heinar Schilling, Walter Rheiner, Raoul Hausmann, Felix Stiemer, Bess Brenck Kalischer, Felix Müller, Max Bruhn, Dietrich. Dieser ›Gruppe 1917‹ treten in der Folge noch bei: Richard Fischer, A. Rudolf Leinert und Dr. E. H. Müller (Leiter der Musikabteilung des Felix Stiemer Verlags) sowie als auswärtige Mitglieder Oskar Maria Graf, Gerhard Aus leger, Kurt Bock und die Graphiker Georg Tappert und Walter O. Grimm.« 16 Schilling schrieb weiter von einem »Plan, neben diesem sehr bald rein politisch orientierten Unternehmen ein lediglich die künstlerische Wertung betonendes Zentrum der Bewegung zu schaffen«. 17 Die Gleichsetzung der Expressionistischen Arbeitsgemein- schaft mit der Gruppe 1917 macht die Nähe beider Vereinigungen deutlich, beruht aber wohl auf einemMissverständnis. Sicher bestand für Felixmüller, einziges Binde glied zwischen der von Literaten dominierten Arbeitsgemeinschaft und der Gemein- schaft bildender Künstler Gruppe 1917 der Wunsch, alle expressionistischen Aktivi- täten zusammenzufassen. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes hatte sich Felix- müller jedoch bereits von diesen Aktivitäten entfernt, und Schilling berichtete allein aus dem Blickwinkel des Vertreters der Literatur. Aber auch Felixmüller hatte durchaus Ambitionen als Autor. Sein »Postulat«, das die expressionistischen Zusammenkünfte eröffnet hatte, stand zugleich am Anfang der ersten Schriftenreihe des von ihm und Felix Stiemer am 1. Dezember 1917 gegründe- ten Stiemer Verlags. In dem manifestartigen Text ist von der Befreiung aus der Tradi- tion die Rede, von der Zerstörung bisheriger Irrungen in der bildenden Kunst und von der neuen Absolutheit eines »Synthetischen Kubismus«. 18 Der Verlag organisierte literarische Abende und gab ab Januar 1918 die Zeitschrift »Menschen« heraus. Walter Rheiner schrieb über deren Ziel: »›Menschen‹ vertritt in Literatur, Kritik, Musik und Politik die aufsteigende jüngste Generation geistig tätiger Menschen [...]. Dem Materialismus [...] setzt sie [...] ihren prinzipiellen Idealismus entgegen [...] Dieser Idealismus heißt in Literatur, Malerei, Musik und Kritik ›Expressionismus‹«. 19 Zur Vorgeschichte der Sezession 1919 gehörte auch der Neue Kreis, 20 der sich unab- hängig von Felixmüllers Aktivitäten aus Dresdner Intellektuellen, Künstlern und Kunstfreunden bildete und in dem das politische Tagesgeschehen keine nennens- werte Rolle spielte. Diese Gruppe traf sich im Dresdner Hotel Bristol, erstmals am 26. April 1917. Ihr gehörten der Psychiater Dr. Heinrich Stadelmann, der russisch-jüdische Kaufmann Victor Rubin, der Rechtsanwalt Franz Benndorf und dessen Bru der, der Dichter Kurt Benndorf, der Hofschauspieler Bruno Iltz und der Architekt Hugo Zehder an. Beteiligte Künstler waren Robert Sterl und Otto Gussmann sowie
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