Leseprobe

15 Im Leben Sibyl Moholy-Nagys bricht sich wie in einem Prisma die Geschichte der deutschen Avant- garde. Geboren 1903 in Loschwitz wuchs sie in unmittelbarer Nähe von Dresden mit seinen schon damals vielen internationalen Ausstellungen und der Gartenstadt Hellerau, einem der Ausgangs- punkte der bildungsbürgerlichen Reformbewegun- gen, auf. 1 Während der Weimarer Republik lebte sie einige Jahre in Frankfurt und Berlin, wo sie den ehemaligen Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy kennenlernte. Gemeinsam mit ihm emigrierte sie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, als das Leben in Deutschland für viele Intellektu- elle und Avantgarde-Künstler unzumutbar geworden war, nach London und später nach Chicago – und nahm in beiden Städten aktiv am kulturellen Leben der Emigranten teil. Nach dem Tod Lászlós zog sie nach San Francisco und schließlich nach New York, das, als sie sich 1951 dort niederließ, von Paris bereits die Rolle als Hauptstadt der modernen Kunst und Kultur übernommen hatte. 2 In den 1950er und 1960er Jahren etablierte sich Sibyl Moholy-Nagy als Architekturkritikerin und -historikerin und machte durch ihre scharfen Analysen moderner Architektur und durch sarkastische Kommentare auf sich aufmerksam. Als sie 1971 verstarb, waren – nicht zuletzt durch ihr Zutun – bereits erste Zweifel an der Vorherrschaft der Moderne laut geworden. Ihr Leben spiegelt also das Spannungsverhältnis von Avantgarde, Tradition und Moderne. Familiärer Hintergrund Sibyl Moholy-Nagy wurde am 29. Oktober 1903 als Dorothea Maria Paulina Alice Sibylle Pietzsch ge- boren. Sie war die jüngste Tochter des Architekten Martin Pietzsch und seiner Frau Fanny, geb. Clauß (1866 –1945, Abb.1). 3 Martins Vater Richard Pietzsch (1836 –1876) hatte als Philologe und Pädagoge Abb. 1 70. Geburtstag von Agnes Wagner Pietzsch in Blasewitz. Agnes, Martin Pietzsch, Claus, Eva, Hertha, Sibylle, Fanny Pietzsch, 1907.

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