Leseprobe

17 Gebäude, das auf seiner Ostseite Künstlerateliers mit hohen Räumen und großen Fenstern und auf der Westseite Wohnungen beherbergt und bei dem historistische Elemente mit denen des Se- zessions- und des Jugendstils verknüpft sind. 7 Auf dem Nachbargrundstück baute Pietzsch 1899 das sogenannte »Kleine Künstlerhaus«, in dem seine Familie wohnte und in dem Sibylle Pietzsch auf- wuchs (Abb. 2). Pietzsch war als selbstständiger Architekt erfolgreich; er baute viele Häuser, Restau- rants und Erholungseinrichtungen und spezialisierte sich vor allem auf Lichtspieltheater.  8 Sein Entwurf für das Dresdner Union-Theater stammt aus dem Jahr 1912 /13 und wurde als bedeutender Bei- trag zur Theaterarchitektur gewürdigt. Das von ihm entworfene Dresdner Lichtspielhaus Capitol wurde 1925 eröffnet und fügte sich harmonisch in die bereits bestehende Bebauung ein. Es bot mehr als  2000 Zuschauern Platz und war komplett mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet. 9 In seiner Formensprache lehnte sich Pietzsch zunächst an Art Déco und Expressionismus an; seine Arbeiten aus den 1920er und 1930er Jahren sind dann in einem eher robusten und schlichten Klassizismus gehalten, der weniger der architektonischen Moderne als dem traditionellen Baustil von Schulze- Naumburg verpflichtet ist. Seinem Enkel Wolfram Steude zufolge blieb Pietzsch die Avantgarde-Kunst und die Architektur des Bauhauses und der Neuen Sachlichkeit zeitlebens fremd, obwohl er gut über diese informiert war. 10 Sibylle war das jüngste von vier Geschwistern: Sie hatte zwei Schwestern – Hertha (1898 –1980) und Eva (1899 –1981) – und einen Bruder, Claus (1902 –1942, Abb. 3). Wie damals bei Bürgerkindern nicht selten, gehörten die Geschwister dem »Wandervogel« an, einer Jugendbewegung, die sich Naturverbundenheit, Freiheit, Eigenverantwor- tung und Nationalstolz, aber manchmal auch die Wertschätzung der angeblich germanischen Wurzeln Deutschlands auf ihre Fahnen schrieb. Sibylle trat dem Wandervogel bei, als sie etwa 15 war, verließ die Bewegung aber schon ein Jahr später wieder. 11 Sibylle war ein kluges und rebellisches Mädchen, wenig geneigt, sich anzupassen. Aus ihren Tage- büchern geht hervor, dass sie keine engen Freundin- nen hatte und ihre Mutter sie als »schwierig« empfand. Sie war eine gute Schülerin, allerdings um den Preis heftiger Angstzustände, die zu körper- licher Erschöpfung und unmittelbar vor ihrem Abi- tur 1920 beinahe zu einem Zusammenbruch führ- ten. 12 Die einzige engere persönliche Verbindung, die sie in ihrer Jugend unterhielt, war die zu ihrem Seelsorger Dr. Carl Mensing, dem Pfarrer der Lutherischen Kirche in Dresden, der sie auch kon- firmiert hatte. 13 Bruder Mensing, wie sie ihn nannte, wurde zu einer Vertrauensperson, mit dem sie auch später in Kontakt blieb. 14 Sibylle verließ das Gymnasium 1920, durfte sich aber nicht auf ein Studium vorbereiten. 15 Obwohl ihre Noten wenigstens so gut waren wie die von Claus, sollte nach dem Willen ihres Vaters allein der Sohn die Universität besuchen. 16 In ihrem Tage- buch liest man von dem großen Wunsch, schöpfe- risch tätig zu werden und als Dichterin oder Schrift- stellerin ihren Beitrag zur deutschen Kultur leisten zu können. 17 Vor dem Hintergrund der Einwände, die ihr Vater gegen den Universitätsbesuch von Frauen hatte, wirkt Sibylles Entscheidung für eine Lehre als Buchhändlerin wie ein Versuch, sich einen Weg in die Welt der Literatur und der Künste zu bahnen. Auch ihren älteren Schwestern hatte der Vater das akademische Studium verboten: Hertha machte eine Lehre als Gärtnerin, Eva als Krankenschwester und Schneiderin. Claus hingegen besuchte eine Universität und schloss sein Stu- dium der Kunstgeschichte und Germanistik mit Pro- motion ab. Eva fand aber – wenn auch mühsam – ihre eigentliche Spur. Nach 1945 gründete sie gemeinsam mit Franz Roh die »Gesellschaft der Freunde junger Kunst« unter dem Dach des Kunst- vereins in München, war deren Geschäftsführerin und hob die erste Graphothek Deutschlands aus der Taufe.

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