Leseprobe
45 In einer Tagebucheintragung vom 10. Juli 1947 denkt Sibyl Moholy-Nagy darüber nach, was sie in intellektueller Hinsicht von ihrem verstorbenen Mann unterscheidet. Sie ist voller Anerkennung für sein Lebenswerk und für alles, was sie von ihm gelernt hat, betont aber auch, dass sie sich histo- risch ungleich besser auskenne als er: »Mein Ver- hältnis zu Moholys Werk ist ziemlich merkwürdig. Als ich ihn kennenlernte, hatte ich keine Augen für abstrakte Kunst. Meine Liebe zu ihm aber öffnete mir den Blick für die Tiefe und den unglaublichen Reichtum an Formen, Farben und Licht, den er mir schenkte. Aber mit den Jahren wehrte ich mich gegen die Ausschließlichkeit, mit der Moholy seine Überzeugungen vertrat. […] Die Liebe zu Moholys Arbeiten ließ mich Dinge in der gegenständ lichen Malerei sehen, die ich zuvor nicht gesehen hatte, und die Prosa von Joyce, die Moholy so schätzte, weckte auch in mir neue Ausdrucksformen anschaulichen Schreibens. Aber bis vor zwei Jahren hatte in Moholys Welt allein die Abstraktion eine Daseinsberechtigung. Die Werte, mit denen ich so lange gelebt hatte, nahm er völlig auseinander. 3000 Jahre Kultur vor 1920 waren in seinen Augen kaum mehr als ›Stroh‹. Das machte mich störrisch und eigensinnig, und es gab Zeiten, in denen ich mich schlicht weigerte, mich seinen Arbeiten zu öffnen. Er wusste das, und wir haben oft erbittert darüber gestritten. Er wollte bedingungslos be‑ wundert und unterstützt werden. Ich aber wollte mein Erbe bewahrt und anerkannt sehen. Das waren die Momente, in denen wir am schlimmsten aneinandergerieten.« 1 Ihr künftiger eigener Weg als Intellektuelle be stätigt diese Selbsteinschätzung. Zwar wird sie Moholys Erbe weiter in Ehren halten und für moderne Kunst und Architektur Partei ergreifen; sie wird ihre Deutung des 20. Jahrhunderts aber auf der Grundlage eines vertieften kunst- und architektur- historischen Verständnisses vornehmen. Ihre aus- geprägte historische Neigung, die sie von vielen Protagonisten der modernen Architektur unterschied, dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb ihr die Lehrtätigkeit am Pratt Institute so gut lag. Schwerpunkt Architekturgeschichte Nachdem sie beschlossen hatte, Architektur geschichte zu ihrem Spezialgebiet zu machen, 2 baute Moholy-Nagy – wie ich Sibyl von nun an nen- nen werde – nach und nach ihre Kompetenz als Architekturhistorikerin und Kritikerin aus. Das Wis- sen, das sie bei der Vorbereitung ihrer Seminare zusammentrug, stammte größtenteils aus Lehr büchern oder aber von ihren Reisen. Ihrer Schwes- ter Eva schreibt sie im Mai 1949, dass sie es »mit Frechheit, Spucke und einer guten Bibliothek« weit bringe bei der Vorbereitung ihrer Seminare, zumal sie als Europäerin über ein solides Allgemein wissen verfüge. 3 Als Muttersprachlerin war sie zudem in der Lage, die umfangreiche kunst- und vor allem architekturhistorische Fachliteratur zu lesen, die auf Deutsch vorlag. 4 Da sie vor dem Krieg in Europa gelebt hatte und viel gereist war, kannte sie viele europäische Städte und Bau denkmäler. Nicht zuletzt war sie von den frühen 1950er Jahren an eine überaus produktive Rezen- sentin und nutzte ihre Buchbesprechungen dazu, ihre Kenntnisse zu erweitern und ihren eigenen Standpunkt als Kritikerin zu entwickeln. 5 Auch unabhängig von ihrer Lehrtätigkeit gab es für sie gute Gründe, sich in ihrer Forschung auf Architekturgeschichte zu konzentrieren. Zum einen handelt es sich hierbei um ein Fachgebiet, das ihr durch den Beruf ihres Vaters und durch Moholys viele Architektenfreunde bereits vertraut war (etwa durch Sigfried Giedion und Walter Gropius, die in Chicago oft ihre Gäste gewesen waren). Zweitens war ihr möglicherweise klar, dass die wissenschaftlichen Standards in der Architektur geschichte weniger anspruchsvoll waren als in der Kunstgeschichte. Die Kunsthistoriker hatten die Architekturgeschichte lange Zeit als Teilbereich ihres Faches betrachtet. Dennoch gab es nicht wenige Berufsarchitekten, die sich auch ohne Fachausbildung in historischer Forschung versuch- ten. Da sie eine wichtige Rolle in der Architekten- ausbildung spielten, nahm man es mit der Serio sität der Forschung in der Architekturgeschichte nicht ganz so genau. 6 Die Architekturgeschichte
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