Leseprobe

46 Anonyme Architekturen oder vom Nutzen der Geschichte bot also unter Umständen mehr Möglichkeiten sich hervorzutun als die ungleich dichter bevölkerte Kunstgeschichte, und begreiflicherweise standen am Anfang ihrer geänderten Publikationsstrategie einige Artikel über die Integration von Kunst und Architektur. 7 Ihre erste kritische Intervention publizierte Sibyl Moholy-Nagy 1953, als sie unter dem Titel »Victories and defeats of modern archi- tecture« (Siege und Niederlagen der modernen Architektur) eine Ausstellung moderner Architektur rezensierte, die im Museum of Modern Art gezeigt wurde. 8 Sie begann ihre Besprechung auf eher konventionelle Weise, indem sie die Ausstellung und insbesondere die Fotografien von Ezra Stoller lobte, holte dann aber zu einigen spitzen Kommen- taren aus, die sich vor allem gegen Mies van der Rohe richteten (Moholy und Mies hatten sich in Chicago miteinander überworfen, Abb.16). Es entsprach ihrer Art, dass sie Würdigung und Kritik in einen breiteren historischen Kontext stellte und etwa darauf hinwies, dass sich die Architektur nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern bereits im anti- ken Rom an den Bedürfnissen der Bürger orientiert habe. Ihrer Meinung nach wurden van der Rohes Neigung zum »Akademismus« und seine »Fassaden­ architektur« überbewertet; Henry-Russell Hitch- cock und Arthur Drexler, die Autoren des Katalogs, mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten nicht erkannt, dass van der Rohe bloß ein  später Erbe von Burnham, Perret und Gropius, den Pionieren der Glasarchitektur, sei. Etwa zur gleichen Zeit nahm sie ein neues Buchprojekt über die anonymen Architekturen der  frühen Siedler in Nordamerika in Angriff. Das Thema war klug gewählt: Es gab so gut wie keine  Forschungsliteratur, was bedeutete, dass sie durch intensive Feldstudien imstande war, ihre fehlende akademische Ausbildung wettzumachen. Anonymes Bauen zwischen Wissenschaft und Plattitüde In ihrem Antrag auf Unterstützung ihres Forschungs­ vorhabens hatte Moholy-Nagy behauptet, man habe sich seit den 1950er Jahren angewöhnt, Archi- tektur mit Monumentalität zu verwechseln; die Idee der Architektur sei einer Konvention unter‑ worfen worden und ihr eigentliches Wesen als vita- ler Ausdruck menschlichen Lebens sei in Vergessen- heit geraten. Ihre erklärte Absicht war es, die von den Ureinwohnern und den frühen amerikanischen Siedlern errichteten Bauten als bis dahin ungenutzte Lebensquelle für das Bauen fruchtbar zu machen. Pate stand ihr hierbei die damalige Faszination für die Kunst der Ureinwohner: »In den letzten Jahren Abb. 16 Blick vom Michigansee auf Chicago mit den Lake Shore Drive Apartments (Architekt: Ludwig Mies van der Rohe).

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1