Leseprobe

47 ist viel geschrieben und veröffentlicht worden über die Kunst der Ureinwohner Nordamerikas und die Schönheit ihrer Masken und Skulpturen, ihrer Keramik und ihrer Gewebe. Vor allem in Nord- und Südamerika aber spricht kaum jemand von der Schönheit indigener Bauten.« 9 Die Architectural League zeigte sich von ihrem Vorhaben überzeugt und verlieh ihr ein Arnold Brunner-Forschungs­ stipendium. Damit finanzierte sie ausgedehnte Rei- sen quer durch Amerika, auf denen sie nach geeig- neten Beispielen für anonyme Architektur suchte. 10 Moholy-Nagys Behauptung, diese Bauten seien bis dato kaum zur Kenntnis genommen worden, trifft freilich nicht ganz zu. Zwar gehörte anonymes Bauen nicht zum Lehrstoff amerikanischer Archi- tekturschulen – Architekturstudenten besuchten in der Regel die vor allem auf Europa zugeschnit- tenen kunstgeschichtlichen Lehrveranstaltungen –, 11 anonyme Architekturen wurden an amerikanischen Universitäten nicht systematisch erforscht. Den- noch gab es Forschungen mit überwiegend loka- lem und regionalem Fokus weitgehend unabhängig vom universitären Lehrbetrieb. Dell Upton weist erste Untersuchungen zu diesem Thema in den 1880er und 1890er Jahren nach. Deren Autoren seien vor allem Antiquare, Sammler und Liebhaber gewesen, von denen einige auch Stellen an den Geografie-Instituten von Universitäten innegehabt hätten. Er unterscheidet zwischen zwei Spielarten dieser nichtakademischen Forschungsrichtung: einer »historischen«, die Veränderungen der Archi- tektur mit sozialen und wirtschaftlichen Faktoren in Verbindung brachte, und einer »kulturellen«, deren typologische oder geografische Architektur- studien eher an gemeinsamen Mustern, Werten und Wahrnehmungen interessiert war. 12 Obwohl Sibyl Moholy-Nagy diese Traditionen in ihrer Arbeit nicht erwähnt, teilt sie besonders mit der »histo­ rischen« Ausrichtung verschiedene Grundannah- men – wie etwa die, dass Architektur in der Praxis einer Gemeinschaft wurzele. 13 Aus akademischer Sicht handelte es sich beim anonymen Bauen also um eine eher unbequeme Kategorie: für die etablierte Architekturgeschichte kaum mehr als der Hintergrund, von dem sich Architekturdenkmale abhoben, die eingehender Betrachtung wert waren, und für die nicht-akade­ mischen Regionalwissenschaften ein Gebiet, auf dem sich soziale, kulturelle oder historische Strukturen studieren ließen. Auch wenn das nötige Wissen und die entsprechende Literatur vorhanden waren, wurde das Material doch nicht von geschul- ten Augen betrachtet und auch nicht so beschrieben und analysiert, dass es für Architekten verwertbar gewesen wäre. Genau dies aber war das Anliegen, das Sibyl Moholy-Nagy verfolgte. Wie dokumentiert man anonymes Bauen? Ihrem Manuskript von Native Genius in Anonymous fügte Sibyl Moholy-Nagy eine aufschlussreiche Notiz zur Entstehung des Werkes bei (Abb.17). Sie  verweist darin zunächst auf ihren Vater und ihren Ehemann als wichtige Inspirationsquellen und  erklärt, dass sie ihre Lehrtätigkeit erst nach dem Tod ihres Mannes aufgenommen habe. Die Kennt- nisse, die sie während ihrer »Lehrjahre« als Dozen- tin erworben habe, in denen sie Kunstgeschichte und Architektur unterrichtete, stammten vor allem von ihren Vortragsreisen: »Die Reisen – insgesamt 34 zwischen 1948 und 1952 – ließen mich dieses Land auf eine Weise sehen, in der ich es bis dahin nicht kannte. Ich entdeckte ein spontanes, in- stinktives Baugenie, das durch seine ungehinderte Originalität vielfach den anonymen Architekturen Europas überlegen war und heute durch eine technik- und spekulationsbestimmte Bauweise er- stickt wird.« 14 Sie positionierte sich also in erster Linie als rei- sende Beobachterin, die ihr Wissen dem unmittel- baren Kontakt mit Artefakten und Bauwerken, der Neugierde an deren Geschichte und der Bereit- schaft verdankte, Zeugnisse der Vergangenheit im Licht der Geschichten zu interpretieren, die ihr die Menschen vor Ort erzählten. In ihren Augen entsprachen diese Bauten einem Architekturideal, das sie selbst so beschreibt: »Auf der Suche nach einer organischen Architektur für lebendige Wesen richtete ich meine Aufmerksamkeit

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