Leseprobe

71 Schon als junge Frau hatte sich Sibyl Moholy-Nagy mit den progressiven und avantgardistischen Bewegungen der Weimarer Republik identifiziert. Sie verstand sich als Teil einer Gruppe von Künst- lern und Intellektuellen, die sich für die Moderne begeisterten und neue Kunst- und Ausdrucksformen ausprobierten, die nicht länger auf Konventionen oder Traditionen beruhten, sondern sich aus einer alle Lebensbereiche umfassenden Vitalität und einem starken Gemeinschaftsgefühl speisten. Ihre Begeisterung für moderne Kunst und Kultur mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb sie so stark von László Moholy-Nagy angezogen wurde, der, als sie ihm 1931 begegnete, bereits als Avant- garde-Künstler und Bauhaus-Lehrer bekannt war. Sie selbst war zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Avantgarde-Szene nicht besonders aufgefallen. Allerdings war sie als Schauspielerin und Dreh- buchautorin mit der Welt des Theaters vertraut. Durch ihren ersten Ehemann Carl Dreyfuss hatte sie mehrere Mitglieder der Frankfurter Schule kennengelernt, darunter Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. Durch ihre intensive Beziehung mit László Moholy-Nagy und dessen frühen Tod aber war sie gezwungen, ihre Kräfte zu konzentrieren. In den ersten Jahren ihrer Beziehung unterstützte sie Moholy bei seinen Arbeiten. In Chicago fiel ihr die Rolle der Übersetzerin und Redakteurin zu – viel schneller als er gewöhnte sie sich daran, sich fließend auf Englisch auszudrücken, was ihr in Moholys Buch Vision in Motion (1947) seine ausdrückliche Danksagung für ihre Hilfe bei den englischen Formu­ lierungen eintrug. 1 Das Zusammenleben mit Moholy als Lehrer und Partner dürfte einer kaum zu über- schätzenden Initiation in die Kunst der Avantgarde gleichgekommen sein. Moholy war nicht nur einer von deren wichtigsten Theoretikern, sondern auch einer der ersten, der über moderne Kunst und Architektur in Kenntnis der vielen modernen Strömungen schrieb. In seinem Buch Von Material zu Architektur von 1929, das 1938 in englischer Übersetzung unter dem Titel The New Vision er­ schien, 2 sprach er sich für einen organischen, nicht- deterministischen Funktionalismus aus (Abb. 35). Es beschrieb viele der gegensätzlichen Ideen, mit denen die verschiedenen Strömungen der Moderne – Futurismus, Kubismus, Suprematismus, Neo­ plastizismus, Konstruktivismus, Dadaismus und Surrealismus – auf den Plan traten, und fand später als wichtiger Beitrag zur Theorie dieser Strömungen Anerkennung. 3 In Vision in Motion, das auf diesem früheren Buch aufbaut, entwickelte er seine Theo- rie weiter. Sibyl Moholy-Nagy hatte dessen Ent­ stehung begleitet und war daher nicht nur mit dem Kunst- und Designverständnis ihres Mannes, sondern auch mit einer Vielzahl anderer ästhetischer Ideen vertraut. Das kam ihr zugute, als sie nach seinem Tod die Biografie Moholy-Nagy. Experiment in Totality in Angriff nahm. 4 Abb. 35 Bucheinband Von Material zu Architektur, 1929.

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